Corona-Pandemie: Sitzen wir wirklich alle im gleichen Boot?

Sr. Michaela Leifgen lebt in Manila, der Hauptstadt der Philippinen. Seit Mitte März ist die Metropolregion mit fast 13 Millionen Bewohnern im Lockdown. In ihrem Rundbrief schildert Sr. Michaela die Situation vor Ort.

Oft hört man, in der Corona-Pandemie sitzen wir alle im gleichen Boot. Sie hat den ganzen Globus im Griff, trifft Arme wie Reiche. Ich finde das eine klägliche Vereinfachung. Sie berücksichtigt die ganzen ökonomischen und sozialen Folgen, die manche Länder viel härter treffen als andere, viel zu wenig. Ja, wir mögen alle im gleichen Boot sitzen, aber wir befinden uns in unterschiedlichen Klassen – und: Es sind nicht genügend Rettungsboote für alle da.

Seit Mitte März befinden wir uns hier im Großraum Manila im Lockdown. Die ersten Wochen waren besonders strikt. Nichts lief mehr. Alle mussten zuhause bleiben. Wer sich nicht daran hielt, und sei es auf der Suche nach Arbeit oder Essen, musste mit Geld- oder Gefängnisstrafe rechnen.

Was passierte mit den Menschen, die gar kein Zuhause haben, in das sie sich zurückziehen konnten? Sie verkrochen sich in Schlupflöcher oder wurden in zu Quarantänelagern umfunktionierten Schulen, Universitäten, Zentren und Parkanlagen untergebracht. Die Regierung versprach Unterstützung in Form von Konservendosen und kleinen Geldbeträgen – nicht alles erreichte die Menschen, für die es bestimmt war. Die Kirche, darunter die Orden, und viele andere großherzige Menschen kochten Tagesrationen an Reis, Gemüse und Fisch. Stark betroffen vom Lockdown waren auch die vielen Menschen, die sich bis dahin ihren täglichen Reis als Tagelöhner verdient hatten. Selbst jene mit fester Arbeit sahen sich nach einigen Wochen mit der Devise „no work, no pay“ und deren Konsequenzen hart konfrontiert.

Mit der Stadt stand auch die Wirtschaft still. Irgendwann fand die Regierung, das kann so nicht weitergehen und erlaubte bestimmten Betrieben (Energie, Lebensmittel, etc.), die Arbeit wieder aufzunehmen. Aber die öffentlichen Verkehrsmittel, die die Menschen zur Arbeit hätten bringen können, waren noch nicht oder nur sehr beschränkt im Einsatz. Chaos. Mit den Lockerungen stieg die Zahl der mit Corona infizierten Menschen und nach einigen weiteren Wochen meldete sich verständlicherweise das Krankenhauspersonal (die sogenannten medizinischen „Frontliner“) zu Wort. Also wurde für zwei Wochen noch mal alles strikt zurückgefahren. So geht es hin und her. Niemand weiß so recht, was Morgen kommt. Aktuell sind wir in GCQ (General Community Quarantine), was unter anderem bedeutet: eingeschränkter öffentlicher Nahverkehr, eingeschränkte betriebliche Arbeit, Sperrstunde zwischen 22 und 5 Uhr, Reisen – auch innerhalb des Landes – nur wenn „notwendig“ (Urlaub, Ausflüge oder Besuche gehören nicht dazu) und verbunden mit großem bürokratischem Aufwand. Viele Menschen sind aufgrund des monatelangen Lockdowns psychisch stark angeschlagen.

Ursprünglich sollten die Schulen Ende August wieder beginnen und zwar online. Nun wurde auch das wieder zurückgefahren, zumindest für die öffentlichen Schulen, die für diesen Wechsel noch nicht aufgestellt sind. Um wie viel weniger die Schüler selbst. Längst nicht alle haben Internetzugang zuhause, geschweige denn einen Laptop oder ein Smartphone. Insgesamt sind die Anmeldezahlen an den Schulen aufgrund der aktuellen Lage stark zurückgegangen. Mehr als vier Millionen Schüler des Vorjahres haben sich nicht zurückgemeldet. Die Eltern können es sich nicht leisten oder sind verunsichert bis skeptisch, wie das alles gehen kann. Unsere ordenseigenen Schulen (sechs an der Zahl), die zu den privaten Schulen gehören, haben inzwischen gestartet, aber mit weniger Schülern und vielen Fragezeichen.

Schätzungsweise zehn Millionen Filipinos werden bis zum Jahresende aufgrund von COVID-19 ihren Job verlieren. Soziale Sicherungsnetze gibt es nicht. Die, die vorher wenig hatten, haben nun gar nichts mehr. Alle Hoffnungen ruhen auf einem Impfstoff, den es noch nicht gibt, und von dem man, wenn es ihn denn dann gibt, noch nicht weiß, wann es ihn auch hier geben wird und für wen zuerst oder überhaupt.

Und dann sind da auch wieder so Menschen wie Alan. Einer der medizinischen Frontliner, der für einige Wochen in unserem Sozialcenter untergebracht war, weil er von seiner Arbeit im Krankenhaus nicht mehr nach Hause wollte, um seine Familie nicht zu gefährden. Jede Nacht legte er nach Ende seiner Schicht mehrere Kilometer Fußweg vom Krankenhaus bis zu uns hinter sich. Als eine Mitschwester sich für ihn um ein Fahrrad bemühte, sagte er: „Schwester, ich habe ein Fahrrad, aber ich habe es dem Wächter im Krankenhaus gegeben; er hat einen weiteren Weg als ich.“

Oder Vilma. Sie war als Köchin in einem unserer Exerzitienhäuser angestellt. Der Vertrag lief nun aus, denn der Betrieb im Exerzitienhaus steht still. Doch Vilma hat noch ein wenig Erspartes und konkrete Pläne: Inmitten der Pandemie möchte sie ihren eigenen Sari-Sari Store (Tante-Emma-Laden) betreiben.

Oder unsere Krankenpfleger und Krankenschwestern im Provinzhaus, die unsere alten, pflegebedürftigen Mitschwestern pflegen. Seit Monaten gehören sie zur Hausgemeinschaft; wohnen, schlafen, essen bei uns, um trotz Lockdown und bei allen auferlegten Einschränkungen weiter ihrer Arbeit nachgehen zu können. Die eigene Familie sehen sie alle zwei Wochen.

Oder die Lehrer unserer Schule im fernab gelegenen Irosin. Weil die Abschlussfeier der Schulabgänger in diesem Jahr nicht stattfinden konnte, verlasen sie die Namen der Schüler über das lokale Radio und fuhren dann von Haus zu Haus, um ihnen ihre Zeugnisse zu überreichen. Bei der Gelegenheit lernten sie auch die Wohnsituation ihrer Schüler besser kennen. Bei einem Haus fiel ihnen auf, dass das Dach zum Teil fehlte. Auf Nachfrage erfuhren sie: Das ist schon so seit Taifun Tisoy im letzten Dezember über diesen Teil des Landes gefegt ist. Bis jetzt fehlten die Mittel zur Reparatur. Da beschlossen die Lehrer, das in die eigenen Hände zu nehmen und kamen am nächsten Tag noch mal zurück – mit Wellblech.

Geschichten von Solidarität, Resilienz, Einfallsreichtum. Und es gäbe noch so viele mehr zu erzählen.

Oft frage ich mich, ob ich das auch so könnte? Ich als eine, die in einer Wohlstandsgesellschaft aufgewachsen ist, der sich im Leben so viele Möglichkeiten aufgetan haben, und die es als ihr natürliches Recht ansah, nur so weit auf andere Rücksicht zu nehmen, wie es den eigenen Plänen nicht im Wege stand. Ich habe große Achtung vor und Zuneigung für die Filipinos - für ihre Resilienz, ihr großzügiges Herz gegenüber der Not anderer, ihre bewusste Entscheidung, dem Schicksal entgegen zu lächeln.

Ja, da ist so vieles, was mich/uns besorgt und bedrückt, aber da ist auch vieles, was Hoffnung macht: Menschen, die das Beste aus sich rausholen, aufgrund des Schlimmen, das ihnen widerfährt.

In der Hoffnung, dass diese Mail den Horizont weitet und Brücken schlägt,
Michaela Leifgen, SSpS

„Wenn dies zu Ende ist, mögen wir entdecken, dass wir mehr zu den Menschen geworden sind, die wir sein wollten, die wir gerufen waren zu sein, die wir hofften zu sein. Und mögen wir so bleiben – besser füreinander wegen des Schlimmsten!“ (Laura Kelly Fanucci)