Die Verteidigerin der Misshandelten

Die Steyler Missionsschwester Julie George arbeitet seit 18 Jahren als Anwältin für Frauen-, Familien- und Menschenrechte bei Streevani, einer Initiative des Nationalen Instituts für Mission und Kommunikation der Steyler Missionare in Indien. Leben jetzt Autorin Xenia Frenkel hat sie zu ihrer Arbeit befragt.

Sr. Julie, Sie sind nicht nur Anwältin, sondern auch Leiterin der Personalabteilung am Holy Spirit Hospital in Mumbai und unterstützen mit den „Sisters in Solidarity“ (Schwestern in Solidarität) auch Überlebende von sexuellem Missbrauch in der Kirche. Warum tun Sie das alles?
Sr. Julie: Als ich vor 32 Jahren bei den Steyler Missionsschwestern eintrat, beschloss unsere Gemeinschaft, in neue Ämter einzusteigen. Zur Wahl standen Anthropologie und Jura. Ich entschied mich für Jura, und meine Vorgesetzten haben mich darin bestärkt. Das Recht ist ein starkes Mittel, um sich konkret auf die Lebenskämpfe der Menschen einzulassen. Nach meinem Master-Abschluss habe ich eine Praxis eröffnet. Mittlerweile haben zwei weitere Schwestern ihre Tätigkeit als Anwältinnen aufgenommen.

Sie kämpfen für Frauen, die Gewalt und Missbrauch erlebt haben. Das klingt nach einem harten Job.
Ein Rechtsstreit ist immer belastend. Vor allem, weil ich für Frauen arbeite, die sehr arm und oft auch analphabetisch sind. Von ihrem familiären Umfeld bekommen sie überdies keinerlei Unterstützung, um sich gegen einen gewalttätigen Familienangehörigen oder Nachbarn und seine mächtigen Anwälte zur Wehr setzen zu können. Ich muss sie über einen langen Zeitraum begleiten, nicht nur juristisch, sondern auch menschlich und geistlich. Diese Frauen sind vollkommen abhängig von mir. Ich fühle mich in hohem Maß für sie verantwortlich, und das erhöht den Druck natürlich. Aber ich kann immer darauf zählen, dass Gott mich und meine Gemeinschaft stützt und stärkt.

Trotzdem kostet Sie Ihr Kampf vermutlich viel Kraft.
Wenn ich das Leiden der Frauen sehe, sehe ich mich in einer sehr privilegierten Position. Meine Kämpfe sind nichts im Vergleich zu den Kämpfen, die diese Frauen ausfechten müssen. Jeder Schritt, den eine Mandantin unternimmt, jedes positive Urteil, das ich in ihrem Namen vor Gericht erlange, ist für mich ein gnadenvoller Moment und gibt mir immense Kraft, Stärke und Ermutigung weiterzumachen.

Sie setzen sich auch für Missbrauchsopfer innerhalb der Kirche ein. Das ist vermutlich auch nicht leicht.
Das stimmt. Es kommt vor, dass wir von Menschen, die hohe Positionen in der Kirche innehaben, an den Rand gedrängt und gebrandmarkt werden. Aber Papst Franziskus hat uns einen klaren Auftrag erteilt, als er sagte: „Ich lade sie ein, zu kämpfen, wenn sie in einigen Fällen ungerecht behandelt werden, sogar innerhalb der Kirche; wenn Sie so viel dienen, dass Sie auf Knechtschaft reduziert werden – manchmal von Männern der Kirche.“ Daher finde ich es äußerst beunruhigend, wenn manche Ordensfrauen eine solche Knechtschaft auch noch verherrlichen.

Was braucht es, damit sich diese Einstellung ändert?
Die Lage der Frauen, insbesondere der Ordensfrauen in der Kirche, wird sich nur ändern, wenn sie den Mut haben, diesen Wandel selbst einzuleiten. Wir können nicht darauf warten, dass unsere Vorgesetzten vorangehen. Wir müssen den Glauben und den Mut haben, unseren eigenen Weg zu gehen.

Der Apostel Johannes sagt: „Die Wahrheit wird dich frei machen“. Was bedeutet dieser Satz für Ihre Arbeit und für Sie persönlich?
Der Raum, die Unterstützung, das Vertrauen, das meine Mandantinnen, meine Kolleginnen und Mitschwestern in mich setzen, erlebe ich als meine Freiheit. Sie stärkt und motiviert mich, in meiner Arbeit immer besser zu werden.  

Das Interview ist in der Januarausgabe 2023 von Leben jetzt, dem Magazin der Steyler Missionare erschienen.