„Es braucht Intuition, Gottvertrauen und Klugheit“

Im Interview erzählt Annette Walz von ihren Erfahrungen als Hebamme in Deutschland und Ghana und erklärt, warum durch moderne Medizin manchmal das Bauchgefühl und das Selbstvertrauen der Schwangeren verloren geht. Ein Artikel aus unserem in:spirit Magazin zum Thema Bauchgefühl.

Liebe Annette, wir wollen heute über das Bauchgefühl reden. Eine ganz besondere Beziehung zu ihrem Bauch haben Schwangere. Du hast viele Jahre als Hebamme gearbeitet und dabei die Frauen vor und nach der Geburt begleitet. Wie hast du die Beziehung der Frauen zu ihrem Bauch erlebt?

Annette: Als sehr intuitiv. Schwangere streicheln ihren Bauch, halten schützend ihre Hände davor. Und ganz klar: Werdende Mütter und Väter bauen auch über Berührungen des Bauches schon vor der Geburt eine Beziehung zu ihrem Kind auf. Ich habe daher in meinen Geburtsvorbereitungskursen die werdenden Eltern mit Körperübungen zur Kontaktaufnahme und ‚ins Spüren‘ kommen ermutigt.

Wir sehen auf Instagram viele perfekte Schwangerenbäuche. Gibt es den perfekten Bauch?

Annette: Die Bäuche sind zum Glück so unterschiedlich wie die Menschen. Mal kleiner, fester oder andere sind weicher – ganz unterschiedlich geformt. Über die Medien wird ein recht einseitiges Bild des ‚idealen‘ Schwangerenbauches vermittelt, aber die Realität ist eindeutig die Vielfalt. Feministische Aktionen versuchen das stärker abzubilden zum Beispiel durch die Ausstellung Geburtskulturen in der Schweiz und Südtirol.

Der schwangere Bauch ist ein sehr intimer Bereich der Frauen. War das für dich als junge Frau in der Ausbildung sehr ungewohnt fremde Bäuche anzufassen?

Annette: Ich musste in meine neuen Aufgaben als Hebammenschülerin erst hineinwachsen und hatte dabei zum Glück gute Vorbilder – insbesondere in freiberuflichen Hebammen. Und nicht nur der Bauch ist intim. Fast alle körperlichen Untersuchungen, die wir als Hebammen machen, sind intim und in der Vor- und Nachsorge sprechen wir natürlich auch über sehr persönliche Themen wie Partnerschaft und Sexualität. Es ist unglaublich wichtig, eine gute vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen, die professionell, liebevoll und respektvoll ist.

Kann man die Geburtshilfe als ein ‚Handwerk‘ bezeichnen?

Annette: Ja, das stimmt! Ich konnte das besonders in Äthiopien und Ghana erleben. Dort hatten wir in den Gesundheitsstationen auf dem Land keine modernen Geräte für die Untersuchungen der Schwangeren. Da lag der Fokus einmal auf den Leopoldschen Handgriffen, das sind die äußeren Tastgriffe, um beispielsweise die Position des Babys im Bauch der Mutter zu bestimmen. Also liegt das Köpfchen schon tief im Becken oder liegt es vielleicht mit dem Po voraus nach unten. Oder das Hören der Herztöne mit Hörrohr aus Holz, anstatt mit dem CTG-Gerät. Auch ein Kaiserschnitt konnte dort nicht durchgeführt werden – was nochmal ganz andere Herausforderungen an das Hebammenhandwerk stellt.

Du hast es gerade schon angesprochen. Du hast ein Jahr als Hebamme in Äthiopien und Ghana gearbeitet. Welche Erfahrungen hast du dort gemacht?

Annette: Eine gute medizinische Infrastruktur gibt es in den Dörfern leider Großteils keine. Auch keine Apothekerinnen, Tropenmediziner oder Krankenschwestern. Aber erfahrene Frauen, die den werdenden Müttern traditionell zur Seite stehen. Alle müssen hier dafür sehr viel mehr Gottvertrauen haben. Schwere Geburtsverläufe werden eher als schicksalshaft angenommen. Das ist vielleicht auch ein psychischer Schutzfaktor für die Frauen, die die Last so etwas leichter ‚abgeben‘ können. Und leider sind die Voraussetzungen für eine gute Schwangerschaft oder Geburt oft auch sehr erschwert. Damit meine ich Krankheiten wie Typhus, Malaria, HIV, weibliche Genitalverstümmelung, hohe Kinder- und Müttersterblichkeit und Mangelernährung. Aber trotz allem, bei normalen Geburtsverläufen, können die Frauen auf ihr ursprüngliches Wissen vertrauen und einen positiven Zugang zu ihrem Bauchgefühl haben und sich als kraftvoll erleben. Das fand ich sehr beeindruckend.

Der Trend in Deutschland geht seit Jahren in eine andere Richtung: 2021 kamen fast 30 Prozent der Kinder per Kaiserschnitt auf die Welt.

Annette: Die Errungenschaften der modernen Geburtsmedizin nehmen inzwischen eine deutlich größere Rolle ein. Das hat aber auch eine Schattenseite: Es gibt inzwischen schon einen Trend, zu viel Interventionen zu machen. Obwohl es inzwischen umstritten und teilweise klar wird, dass zu viel Interventionen, insbesondere unter der Geburt, eher einen Risikofaktor darstellen. Den Schwangeren werden vermehrt auch Zusatzuntersuchungen angeboten, was aber paradoxerweise nicht das Gefühl der Sicherheit unterstützt, sondern die Schwangerschaft dadurch vermehrt mit Ängsten belastet. Das ist wieder für die psychische Gesundheit der Frauen nicht gut. Die Frauen sind gelegentlich vielleicht sogar ein Stück weit ‚zu gut‘ informiert und dadurch geht manchmal etwas ihrer eigenen Intuition, das Selbstvertrauen und das Körpergefühl verloren.

Kannst du dich an eine Situation erinnern, wo es richtig war, deinem Bauchgefühl vertraut zu haben?

Annette: Es war nicht mein Bauchgefühl, aber das einer erfahrenen Kollegin und Geburtshelferin in Ghana. Das Kind, das gerade geboren worden war, machte einen leblosen Eindruck. Ich glaubte in diesem Moment nicht an einen guten Ausgang, zumal das nächste Krankenhaus gut zwei Stunden entfernt lag. Aber die Geburtshelferin schickte mich mit dem Neugeborenen los. Wir wickelten das Kind in Handtücher und brachen mit dem Jeep in dieses Krankenhaus auf. Nach einer halben Stunde schrie das Kind und wurde lebhaft. Das ist mir sehr eindrücklich in Erinnerung geblieben. Das Kind war schwach, aber es hat überlebt. Ein echter Glücksmoment!

Und bei dir persönlich? Wo hast du da auf deinen Bauch gehört?

Annette: Als es um meinen weiteren beruflichen Weg ging, habe ich im Bauch gespürt, welcher nächster Schritt für mich der richtige ist. Nach meiner Zeit als Hebammen noch Psychologie zu studieren, um Menschen besser emotional begleiten zu können. Das Thema Frauengesundheit liegt mir immer noch besonders am Herzen. Heute arbeite ich als Psychotherapeutin. Da geht es zum Beispiel auch um Verarbeitung ungünstiger Geburtsverläufe, Trauerbewältigung nach einer Fehlgeburt mit postpartalen Depressionen oder um Frauen, deren Kinder auf der Frühchen Station liegen.

Was hältst du von der viel zitierten weiblichen Intuition?

Annette: Mich beeindrucken Frauen, wie die Mystikerin Madeleine Delbrel oder die Heilige Edith Stein, die ihren ganz eigenen Weg gegangen sind – mit Intuition, Gottvertrauen und Klugheit. Sie haben ihre Entscheidungen stark aus ihrem Gebetsleben und Glauben heraus getroffen. Und perfekt wird diese Mischung noch mit einer Prise Humor, das schätze ich auch bei Papst Franziskus und der Vorreiterin und Ordensgründerin Mary Ward sehr.

Interview: Steffi Mager

Zur Person: Annette Walz ist ausgebildete Hebamme, war 2010/11 als Missionarin auf Zeit in Ghana und Äthiopien und arbeitet heute als Psychotherapeutin in Bamberg. Warum sie Hebamme geworden ist? Weil schon ihre Oma Erna als junge Frau von ihrer Heimat Nordrhein-Westfalen nach Ostpreußen aufgebrochen war, um dort als Säuglingskrankenschwester zu arbeiten. Sie hatte damals viele prägende Erlebnisse zur Zeit des Zweiten Weltkrieges. Annette hat sich von ihren Erlebnissen und Erzählungen inspirieren lassen.

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