„Gott kommt mitten ins menschliche Chaos“

Genau ein Jahr ist seit dem letzten Rundbrief von Sr. Michaela Leifgen vergangen. Trotz und mit Corona — das Leben geht weiter und es ist viel passiert. Bishin zum Taifun kurz vor Weihnachten.

Der Taifun Rai hat besonders im Süden der Philippinen viele Häuser zerstört und Menschenleben gefordert

Momentan erleben wir hier auf den Philippinen einen deutlichen Rückgang an COVID-Fällen. Anders als in Europa hat sich die Omikron-Variante noch nicht bemerkbar gemacht — was aber wohl nur eine Frage der Zeit ist. Aktuell sind 40 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft, mit großen regionalen Unterschieden. So sind hier im Großraum Manila, wo die Fälle am dichtesten waren, bereits 94 Prozent der Zielgruppe geimpft. 

Trotz dieser erfreulichen Entwicklungen und aufgrund des eher schwachen Gesundheitssystem erwacht das Land aber nur langsam aus dem Dornröschenschlaf und vor allem das soziale Leben unterliegt nach wie vor vielen Auflagen und Einschränkungen. Für mich bedeutet das, dass ich meine Aufgabe in der Ordensausbildung (Begleitung, Seminare) und Schule (Beratung, Bildung) zu fast 100 Prozent online mache.

Mein intensivster Berührungspunkt mit der Pandemie ist in der Beratungsstelle unserer Schule. Seit März 2020, also seit mehr als anderthalb Jahren, findet das schulische Leben nun schon online oder mithilfe von Modulen, die die Schüler*innen eigenständig zu Hause bearbeiten, statt. Tatsächlich sind die Kinder und Jugendlichen von den Einschränkungen der Pandemie besonders hart getroffen, bildungstechnisch und sozial. Viele teilen sich mit ihren Eltern und Geschwistern den Laptop, oder verfolgen den Unterricht auf dem Handy-Display. Da der Wohnraum oft begrenzt ist, findet die Online-Schule im selben Raum statt, in dem auch der Fernseher läuft, gekocht und geredet wird. Die instabile Internetverbindung tut ihr Übriges. 

Vielen Schüler*innen fällt es verständlicherweise unter diesen Umständen schwer, dem Unterricht zu folgen und Hausaufgaben zu erledigen. Hinzu kommt, dass ihnen durch den Online– und Modularunterricht die Möglichkeit verwehrt bleibt, ihre Freunde zu treffen. Die Isolation, der Stress, und der unsichere Blick in die Zukunft bringt für viele Jugendliche psychische Probleme mit sich. In unserer Schul-Beratungsstelle versuchen wir mit unserem Zwei-Frauen-Team darauf zu reagieren und habe einige neue Programme ins Leben gerufen. So besuchen wir jeden Montagmorgen — via Zoom — eine Klasse der Stufe 7 bis 12, um mit ihnen über die Dinge zu sprechen, die zuhause oft tabu sind. 

Unser erstes Modul befasste sich mit Depressionen, Ängsten und dem Umgang mit intensiven Gefühlen. Unser zweites Modul, das im Januar startet, wird den Fokus auf das „Growth Mindset” (Wachstum an Herausforderungen) legen. Als Teil unseres ersten Moduls haben wir auch zwei psychologische Tests durchgeführt, um einen besseren Einblick zu bekommen, welche Schüler*innen mehr Hilfe brauchen. Die Ergebnisse waren erschütternd: Die Hälfte aller Schüler*innen zeigt Anzeichen von Depression, und der Anteil derer, die stark mit Ängsten konfrontiert sind, ist sogar noch höher. Auch Selbstverletzung und Suizidgedanken sind ein Thema. Mit allen betroffenen Schüler*innen haben wir persönlich Kontakt aufgenommen und Gespräche als einzelne, in Kleingruppen oder mit Eltern angeboten.

Ein weiteres Programm, das wir in diesem Schuljahr gestartet haben, ist das Buddy-Programm. Hier haben Schüler*innen aus den Stufen 11 und 12 als „Buddies” (Kumpel) für die Neuzugänge an der Schule gemeldet. Neu an einer Schule sein, ist immer eine Herausforderung, wie viel mehr noch, wenn der Unterricht nur online stattfindet. Die Buddies waren da eine echt große Hilfe, weil sie den Neuen nicht nur alles rund um die Schule erklärt haben, sondern auch erste Freundschaften mit ihnen geschlossen haben.

Neu in diesem Schuljahr ist auch eine „Peer Counselling” AG in der Schüler*innen aus den Stufen 7 bis 10 Grundlagen in der Beratung wie aktives Zuhören, hilfreiche Fragen stellen, Gefühle reflektieren, etc. lernen und damit ihren Mitschüler*innen ein offenes Ohr und mitfühlendes Herz schenken. All diese Programme und der Kontakt mit den Schüler*innen (wenn auch online) bedeuten mir viel, und fordern mich auch sehr heraus. Über psychische Probleme zu sprechen, ist oft immer noch ein Tabu und viele junge Menschen glauben, dass es ihre „Schuld” sei, wenn es ihnen nicht gut geht, sie sich nicht genug anstrengen, ihre Probleme übertreiben, oder sie andere Menschen, vor allem ihre Eltern, enttäuschen. 

Im September, dem Höhepunkt der dritten Welle hier im Land, hat es auch uns erwischt: Das Corona-Virus hat sich in unserem Kloster breit gemacht. Es begann mit einer Schwester, die sich bei ihrer Physiotherapeutin angesteckt hatte, und ging dann noch auf weitere 13 Schwestern und 9 Mitarbeiter*innen über, die meisten von ihnen auf unserer Pflegestation. Vier Schwestern haben sich in dieser Zeit in die Ewigkeit verabschiedet. Für etwas mehr als zwei Wochen war unser gesamtes Kloster im Lockdown und das Gemeinschaftsleben zurückgefahren: keine gemeinsamen Gebetszeiten mehr, die Mahlzeiten nahm jede allein in ihrem Zimmer ein, Kommunikation fand überwiegend via Chatgruppe statt. 

Wenn ich heute an diese Zeit zurückdenke, kommt mir vor all das in Erinnerung: eine Welle der Solidarität. So viele Menschen sind uns in dieser Zeit zur Seite gestanden, haben uns Schutzanzüge, Gesichtsmasken, Desinfektionsmittel, Vitamintabletten, Früchte, warme Mahlzeiten etc. geschickt. So viele haben mit und für uns gebetet — auch während der Gottesdienste für unsere verstorbenen Schwestern, die wir auf Zoom gefeiert und auf Facebook live gestreamt haben. Das war echt überwältigend und hat uns in dieser herausfordernden Zeit vor allem dankbar und hoffnungsvoll gemacht. Genau genommen war da schon Weihnachten für uns: Nicht so sehr wegen der Geschenke, sondern wegen dem, was dahintersteckte. Dass Gott mit uns ist, ganz konkret und mensch-geworden in all denen, die uns ihre Nähe haben spüren lassen. 

Kurz vor Weihnachten ist Taifun Odette (international als Rai bekannt) durch den Süden der Philippinen gefegt. Auch unsere Schwestern in Cebu und viele Angehörige unserer Schwestern hat es hart getroffen. Noch immer werden Opfer tot geborgen. Eine halbe Millionen Menschen haben ihr Hab und Gut verloren und werden Weihnachten in Evakuierungslagern verbringen. Was für ein Timing, dass die schlimmsten Taifune immer um Weihnachten herum zu kommen scheinen, dachte ich mir…

… und dann: Wie gut, dass bald Weihnachten ist! Denn: Was auch immer gerade unsere Realität sein mag, ob wir betroffen vor den Verwüstungen eines Taifuns stehen oder besorgt vor der nächsten Corona-Welle — Weihnachten kommt gerade recht. Wir brauchen die Erinnerung daran, dass Gott in das Chaos des menschlichen Lebens kam und kommt. Ausgerechnet. 
Ja, Weihnachten macht so viel Sinn und schenkt so viel Hoffnung. Gerade jetzt.

Euch allen ein Fest der Hoffnung! 
Frohe Weihnachten! Maligayang Pasko!

Michaela Leifgen