Machen Kleider wirklich Leute?

Lena arbeitet derzeit als Projektkoordinatorin der NGO „El Derecho a No Obedecer“ in Kolumbien und ist in diesem Kontext in verschiedenen Integrationsprojekten mit Personen aus Venezuela und Kolumbien tätig. Begleitet Lena nach Santa Fe, dem Rotlichtviertel Bogotás (Kolumbien), einem Stadtviertel in dem es vielmehr ums Ausziehen als Anziehen geht – und das nicht nur die Kleidung betreffend.

Mit den selbstgestrickten Socken ihrer Oma fühlt sich unsere Autorin Lena immer wohl

Nachdenklich stehe ich vor dem improvisierten Kleiderschrank in meinem Zimmer in Bogotá: Die selbstgestrickten Wollsocken meiner Oma? Die zerrissene Jeans und ein Pulli? Oder doch die etwas schickere Bluse mit Blumenmuster? Das sind Gedanken, die ich mir ehrlich gesagt, nicht so häufig mache, denn für mich zählt meist nur eines: Praktisch muss es sein. Das heißt bei dem wechselhaften Wetter Bogotás, Zwiebellook mit Turnschuhen oder, wenn der Himmel schon etwas grauer ist, am besten Gummistiefel. Sonnencreme und Regenschirm sind dabei Accessoires, die niemals fehlen dürfen.

Doch heute ist es anders, denn nach meiner Aktivität mit Migrantenfamilien im Rotlichtviertel, bin ich verabredet mit Hope, Camila und Dan*, um mit ihnen über Kleidung als Ausdruck der Persönlichkeit zu sprechen. Hope ist eine Transfrau, die Kleidung nutzt, um ihrem weiblichen Geschlecht Ausdruck zu verleihen. Camila eine Sexarbeiterin, die mit ihrem Aussehen und der Kleidung oder auch dem, was sie oftmals nicht trägt, Geld verdient. Und Dan ist eine nicht binäre Person, was sich auch in Dan’s Stil widerspiegelt. – Und was drücke ich mit meinem Kleidungsstil aus, überlege ich, als ich die Gummistiefel überstreife, denn die Wolken sind schon recht grau geworden.

Als ich durch die Straßen des Zentrums von Bogotá laufe, fällt mir auf wie „gut“ die Menschen gekleidet sind, alle in Anzug, Rock oder Kostüm, ist ja auch das Banken- und Büroviertel der Stadt. Dabei muss ich an ein Gespräch mit Angela*, einer Freundin aus Venezuela, denken. Angela erzählte mir, dass sie neulich das fragwürdige Kompliment erhalten habe, sie würde gar nicht wie eine Venezolanerin aussehen, da sie so „gut“ gekleidet sei. Dies würde also im Umkehrschluss bedeuten, dass Personen aus Venezuela generell „schlecht“ gekleidet sind. So ein Schwachsinn, denke ich, als ob man Kleidung in Kategorien wie „gut“ und „schlecht“ unterteilen könnte. Aber doch interessant, wie schnell wir vom Aussehen einer Person auf deren Nationalität, Herkunft oder Beruf schließen. Kleidung ist also irgendwie wirklich ein Kommunikationsmittel, um uns und unsere Persönlichkeit und Geschichte mitzuteilen.

Dies wird mir auch bewusst als ich wenige Straßenblocks später in Santa Fe ankomme. Der „zona de tolerancia“, Toleranzzone, wie das Rotlichtviertel der kolumbianischen Hauptstadt betitelt wird. Hier sieht alles ganz anders aus als im 500 Meter entfernten Stadtzentrum – auch die Menschen. Junge Frauen und Mädchen stehen „leicht“ bekleidet an garagenähnlichen Eingängen, viele tragen nur Shorts und einen BH, andere auch nur Netzdessous. Damit hoffen sie Kunden zu gewinnen, um so ihr Zimmer zu bezahlen, Essen kaufen und ihre Familie versorgen zu können. In Gedanken versunken, laufe ich durch die Straßen und komme an einem heruntergekommenen Fußballplatz an. Dies ist der einzige öffentliche Park des Stadtviertels. Hier ist immer viel los, denn in dem Stadtviertel leben viele Menschen in sogenannten „pagadiarios“, Unterkünften, in denen die Zimmer pro Nacht bezahlt werden und die Menschen tagsüber das nötige Geld zusammenkratzen, um ein Dach über dem Kopf zu haben. In diesen Unterkünften gibt es strenge Uhrzeitregeln und tagsüber ist es verboten, sich dort aufzuhalten. Daher treffen sich die Menschen im Park, meist mit all ihren Habseligkeiten, was oft nur ein Rucksack ist – ich denke an meinen improvisierten, aber gefüllten Kleiderschrank.

Heute haben wir dort eine Aktivität mit Kindern aus Venezuela geplant. Viele Familien müssen aufgrund der soziopolitischen und ökonomischen Situation das Land verlassen und fliehen in das Nachbarland Kolumbien – oft zu Fuß. Luisa ist neun Jahre alt, musste mit ihrer Familie aus Venezuela fliehen und ist erst seit wenigen Tagen in Kolumbien. Sie und die anderen erzählen mir, wie sie lange Strecken laufen mussten, Hunger hatten und wie schlecht sie teilweise behandelt wurden. Unauffällig schaue ich auf die Schuhe der Kinder. Diese sind ausgelatscht, voll mit Löchern und haben kaum noch Sohlen. Ja, Kleidungsstücke erzählen definitiv Geschichten, egal ob freiwillig oder unfreiwillig. Am liebsten würde ich mir meine Gummistiefel ausziehen und diese verschenken. Im übertragenen Sinne stehe ich schon längst ohne Schuhe da.

Unsere Aktivität ist beendet und nun endlich werde ich mich mit Hope, Camila und Dan über all die Aspekte zu Kleidung unterhalten, die ich mir so überlegt habe, oder? Wir reden über unsere Familien, unsere Partner*innen, Sorgen auf der Arbeit und im Studium. Wir lachen über schlechte Witze und die Musik, die in der Kneipe aus dem Radio tönt. Camila erzählt mir von ihrem Hund und wir verabreden uns zum Gassigehen. Dan und Hope laden uns auf eine Demo ein, um auf die Gewalttaten gegen die LGBTIQ+ Gemeinschaft** aufmerksam zu machen. Erst vor kurzem wurde eine Freundin von ihnen wegen ihres ausgelebten Geschlechts ermordet. Danach wollen sie mir noch die besten Partys Bogotás zeigen. Die aktuelle Pandemie und finanzielle Lage vieler Menschen ist auch Thema. Camila berichtet, dass viele Sexarbeiterinnen aus der Not heraus Sex ohne Kondom akzeptieren würden, da sie dafür 1000 Pesos (ca. 20 Cent) mehr bekommen. Wir planen eine „olla comunitaria“, eine Art Suppe für die Bewohner*innen des Viertels und ich lade die Drei zu einer Lichtershow ins Planetarium ein. Vier Stunden später bin ich auf dem Heimweg.

Haben wir uns über Kleidung unterhalten? Nein. Aber dieses Gespräch war so viel ehrlicher und authentischer, denn ich habe mich anziehen lassen, und zwar von dem Zwischenmenschlichen, von den Personen und ihren Geschichten. Lassen wir uns also abstoßen von den Ungerechtigkeiten, von Gewalt, Hass, Rassismus und Diskriminierung und empören wir uns darüber! Aber ziehen wir uns auch aus, zeigen wir Menschlichkeit und versuchen wir Menschen in unseren Gegenübern zu sehen mit ihren Sorgen, Freuden, Leidenschaften und Träumen und lassen wir uns genau dadurch anziehen. Was Camila, Dan und Hope an diesem Tag getragen haben? Ich habe keine Ahnung. Aber die gestrickten Socken meiner Oma trage ich nach wie vor gerne und jetzt mit einer Erinnerung mehr.

Lena Bareiß

*Alle Namen wurden geändert.

**LGBTIQ+ ist eine aus dem Englischen übernommene Abkürzung für Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Intersexual und Queer, mit den + werden weitere Geschlechtsidentitäten und sexuelle Orientierungen eingeschlossen.

Dieser Artikel stammt aus unserem in:spirit-Magazin zum Thema "Anziehend". Die ganze Ausgabe und weitere Infos zu unserem Magazin gibt es hier.