Magazin: Was erreicht mein Glaube?

Pastoralreferentin Lisa Quarch hat für das in:spirit Magazin über TikTok-Views, Demokratie und spirituelle Selbstermächtigung geschrieben. Ein Beitrag aus der Ausgabe "Weit".

Der Slogan von Lisa Quarch: „faithspaces must be Safespaces“

Es ist ein Samstagvormittag im November. Ich mache seit ein paar Wochen TikTok-Videos über meinen Glauben und da besonders über den Aspekt, dass ich sowohl praktizierende Christin als auch Theologin und Feministin bin, die mit einer progressiven Sicht auf ihre eigene Religion schaut und von ihrem Glauben erzählt. Meine Videos hatten in den letzten Wochen immer ein paar tausend Leute, also „Views“, erreicht. Das meistgeschaute Video lag da so ungefähr bei 8.000 Views, was damals für mich schon mega viel war.

An diesem Samstagmorgen hatte ich ein, wie ich fand, sehr nischiges Video über einen speziellen Vers im Buch Deuteronomium aus der Bibel aufgenommen. Ich hatte in den Wochen davor öfter mal mein historisch-theologisches Bibelverständnis in Bezug auf queere Beziehungen erklärt, und da wurde mir als Widerspruch immer wieder diese bestimmte Stelle aus der Bibel genannt. Also habe ich ein Video aufgenommen, in dem ich diese Stelle historisch und in den Kontext eingeordnet habe. Nach dem Hochladen legte ich mein Handy weg und traf mich mit einer Freundin. Ein paar Stunden später in der Bahn nach Hause öffnete ich TikTok und konnte erst gar nicht glauben, was da passiert war: Mein Video war in der Zwischenzeit über 100.000 Mal abgespielt worden – und es wurde minütlich immer mehr. Inzwischen hat das Video über 345.000 Aufrufe, 37.000 Likes und über 1.000 Kommentare, und ich erlebte zum ersten Mal, was es heißt, auf Social Media so richtig Reichweite zu bekommen.

Ich bekam Nachrichten von super jungen Menschen, die mir von ihren belasteten Situationen erzählten. Da waren Menschen, die zum ersten Mal hörten, dass es so etwas wie eine progressive Theologie gibt, junge queere Personen, die dachten, es gäbe kein Christentum, in dem sie einen Platz hätten, und zum ersten Mal Hoffnung bekamen, dass sie bei Gott bleiben dürfen, auch wenn sie weiterhin lieben, in wen sie sich verlieben. Da waren Atheistinnen, die sich bedankten, dass es neben dem vielen christlichen Fundamentalismus auf TikTok auch progressive religiöse Stimmen gibt, da waren Menschen auf der Suche, die mich fragten, wie sie anfangen können zu beten, da waren Kommentare, die sagten, dass sie das Gefühl haben, dieses TikTok wäre eine Antwort auf ihr verzweifeltes Gebet. Mit all dem kam aber auch der Hass. Die Videobearbeitungen mit Teufelssmileys auf meinen Augen, die Nachrichten von Menschen, die wirklich glauben, dass mein einziges Ziel wäre, Menschen in die Hölle zu ziehen, die Beleidigungen und Aufforderungen mich zu löschen. Von diesem ersten Moment mit so richtig viel Reichweite habe ich gelernt: Es braucht ein gutes Maß an Abgrenzung, aber es lohnt sich so sehr.

Ich habe das Glück, diese Art der digitalen Glaubenskommunikation aktuell nicht ehrenamtlich zu machen. Ich bin Pastoralreferentin im Bistum Limburg und habe dort eine halbe Stelle für crossmediale Glaubenskommunikation. Die fülle ich zu einem großen Teil mit dem Projekt „Faithpwr“. Faithpwr ist ein ökumenisches Projekt, das auf unterschiedlichen Kanälen unterwegs ist. Auf TikTok mache ich den Account alleine, aber auf Instagram sind wir ein Teamaccount. In diesem betrachten wir immer über ein paar Wochen ein gesellschaftlich relevantes Thema aus sehr unterschiedlichen christlichen Perspektiven heraus. Die Themen sind so etwas wie „Körper“, „Familie“, „Entscheidungen“, „Ruhe“, „Intimität“, „Arbeit“ … und der Account lebt vor allem daraus, dass (anders als auf TikTok) nicht nur ich meine Perspektive teile, sondern wir eine Plattform und Gemeinschaft sind, auf und in der Menschen aus der Community ihre Geschichte und Gedanken teilen und unseren Content dadurch ganz aktiv gestalten. Durch diese Form der Communityarbeit erreichen wir auf Instagram nochmal eine ganz andere Form der Reichweite: Denn auf TikTok sind die quantitativen View-Zahlen zwar oft (auch nicht immer) höher als auf Instagram, aber auf Instagram ist durch die Vielfalt der verschiedenen Perspektiven eine viel größere Weite innerhalb der Themen und christlichen Spiritualität und Strömungen möglich. Denn auf Instagram sind wir ganz bewusst kein Account, der sich um eine Person dreht, sondern ein Account, der Diversität in den Fokus stellt. Wir versuchen in jeder Themenreihe unterschiedliche Konfessionen, spirituelle Traditionen, politische Ausrichtungen, sexuelle Orientierungen, Geschlechtsidentitäten, Herkünfte und Hautfarben abzubilden. Das ist für uns auch Reichweite.

Neben diesen beiden Reichweiten, der quantitativen und der inhaltlichen, ist für mich (und für uns als Team) noch eine dritte Reichweite extrem wichtig: die Wirkungen, die wir bei den Menschen unserer Community bzw. bei den Menschen, die unseren Content konsumieren, bewirken. Dabei sind für mich zwei Wirkungen besonders wichtig: 1. spirituelle Selbstermächtigung, 2. Demokratie fördern. Mein Ziel ist es, durch meinen Content und meine Reichweite nicht dafür zu sorgen, dass alle Menschen, die diesen sehen, danach genau das Gleiche glauben wie ich. Es ist noch nicht mal, dass alle Menschen sofort Christ:innen werden. Sondern ich möchte Menschen dabei unterstützen, herauszufinden, was ihre eigene Spiritualität ist und über diese selbstbestimmt verfügen zu können. Dafür erzählen wir auf Instagram so viele unterschiedliche Geschichten, die sowohl zur Inspiration als auch zur Abgrenzung beitragen können, aber auf jeden Fall dafür sorgen, dass sich Menschen ein bisschen klarer darüber werden können, was sie glauben oder wie sie diesem Glauben Ausdruck verleihen und ganz praktisch ausüben können.

Neben dem Ziel, die spirituelle Selbstbestimmung zu fördern, steht das Ziel, durch Reichweite und Content auf Social Media unsere Demokratie zu stärken. Während die spirituelle Selbstbestimmung oft recht schnell mit unserem Content in Verbindung gebracht werden kann, ist die Demokratiebildung erstmal oft nicht direkt so selbsterklärend. Allerdings ist dieses Ziel tatsächlich erst als zweites bei uns im Team dazu gekommen, weil es uns von außen immer wieder zugesprochen wurde und dann uns auch selbst immer wichtiger wurde. Auf Social Media gibt es leider eine sehr große Community an radikalisierter Religiosität, die die Welt in Dualismen, also in absolut Gut und absolut Böse, einteilt. Wir wollen da eine Alternative bieten und auch immer wieder davon erzählen und auch zeigen, dass es neben dieser auch eine progressive Religiosität gibt, die einen positiven Einfluss auf die Gesellschaft haben kann.

Gerade auf TikTok ist die Stimme von sowohl religiös als auch politisch radikalisierten Personen extrem laut. Dies wird auch gesellschaftlich zu einem immer größeren Problem. Ich glaube, wir sollten uns als Christ:innen dieser gesellschaftlichen Herausforderung nicht entziehen, sondern genau auch da hingehen und, wie die Bibel es formuliert hat, versuchen, ein Licht zu sein und immer wieder laut zu werden und einzustehen für Gleichberechtigung, gegen Diskriminierung, für gegenseitiges Verständnis, für Freiheit und gegen Hass. Für Selbstermächtigung und für unsere Demokratie. Und das gilt selbstverständlich auch außerhalb von Social Media, und einfach an jedem Ort und zu jeder Zeit, in der wir Reichweite haben. Und diese haben wir immer, wenn wir andere Menschen erreichen. Egal ob auf TikTok oder beim Kaffeetrinken mit unseren Freund:innen. Keine Reichweite ist umsonst.

- Lisa Quarch (27) ist Pastoralreferentin in einer Pfarre in Frankfurt a.M. und ist dort unter anderem für die Firmkurse zuständig. Als Content Creatorin ist sie in verschiedenen Netzwerken aktiv. Bei @ruach.jetzt hat sie gemeinsam mit Eva Gutschner ein Gebetskartenset veröffentlicht. Der Slogan ihrer Arbeit „faithspaces must be Safespaces“.  

Der Text stammt aus dem in:spirit Magazin mit dem Titelthema "Weit". Hier die ganze Ausgabe ansehen