MaZ: Die verändernde Kraft des Evangeliums

Elias hat zur Vorbereitung auf seinen MaZ-Einsatz in Chile einen Monat auf der Fazenda da Esperanca in Berlin mitgelebt. Was ihn nachdrücklich beeindruckt hat, erzählt er in seinem Rundbrief. 

Elias (gelbes Shirt) blickt dankbar auf die Zeit in der Esperanza bei Berlin zurück

Nelson war ein junger Angestellter in Guaratingetá, einer Stadt in der Nähe von São Paulo. Nachmittags, wenn er von der Arbeit nach Hause ging, kam er immer an einer Straßenecke vorbei, an der junge Leute Drogen nahmen. Inspiriert von den Worten des Evangeliums versuchte Nelson eine Beziehung zu ihnen aufzubauen. Nach und nach gewann er Antonio, einen der Jugendlichen, als Freund. Antonio flehte Nelson an: „Mach mit mir, was du willst, aber hilf mir bitte! Alleine schaffe ich es nie, aus diesem Leben herauszukommen!“ Monate später wohnten sie gemeinsam mit anderen Freunden von der Straßenecke in einem kleinen Haus, mit dem Ziel, durch die Worte des Evangeliums neue Menschen zu werden. 

Das war im Jahr 1983, der Beginn einer neuen „Methode“ der „Rekuperation“ von Abhängigen – die Geburtsstunde der Fazenda da Esperança (Höfe der Hoffnung). Heute, im Jahr 2021, gibt es über 150 Fazendas auf der ganzen Welt. Und auf einem dieser Höfe durfte ich mir selbst ein Bild von dem Alltag auf den Fazendas machen. Der knappe Monat, den ich auf Gut Neuhof in der Nähe von Berlin mitlebte, war gefüllt mit Erfahrungen, die mir einen ganz neuen Blick auf viele Themen vermittelten.

Auf Gut Neuhof teilte ich den Alltag mit sieben Rekuperanten (recuperare: sich wieder gewinnen/finden), die ich mit der Zeit richtig ins Herz geschlossen habe. Ihre Geschichten und Persönlichkeiten sind sehr vielfältig – so lebte ich etwa zusammen mit einem 61-jährigen Schwaben, einem 17-jährigen Münsterländer und einem 32-jährigen Kenianer. Das Miteinander war zumeist sehr harmonisch und lustig. Ständig hatten wir zum Beispiel etwas zu lachen, wenn mal wieder kaum einer das herrliche Schwäbisch verstand und es „übersetzt“ werden musste.

Ich fühlte mich sehr gut integriert, auch wenn ich mich am Anfang erst daran gewöhnen musste, dass hier – anders als zuhause am Abendbrottisch – eher selten intellektuell herausfordernde Themen auf der Tagesordnung stehen. Es hat mir sicherlich nicht geschadet, mal in ein Umfeld einzutauchen, in dem es völlig unangebracht ist, Menschen darauf hinzuweisen, dass „wegen“ mit Genitiv steht :-)

Mein Tagesablauf und meine Aufgaben ähnelten denen der Rekuperanten. Meistens wird etwa sieben Stunden am Tag gearbeitet – in Küche, Stall, Gästehaus oder draußen. Da wir von der Tafel immer viel Obst bekamen, kochte ich sehr viel Marmelade und Saft; und da der Hof sehr groß ist, habe ich so viel geputzt wie noch nie in meinem Leben :-) Meine Freizeit verbrachte ich oft mit Sport. Es hat super viel Spaß gemacht, sich gemeinsam mit den Rekuperanten im Kraftraum zu verausgaben!

Neben Arbeit und Gemeinschaft ist Spiritualität ein zentraler Bestandteil des Lebens auf der Fazenda. Jeden Tag wird entweder der Rosenkranz gebetet oder eine Messe gefeiert. Besonders gut gefielen mir die Rosenkranzspaziergänge durch die Windräder des Havellandes – es tat gut, mal außerhalb des zwar offenen, aber nicht zu verlassenen Hofes zu sein. Einmal in der Woche gibt es eine Anbetungszeit und einen sogenannten „Austausch der Seele“. Dabei erzählt jeder, wie es ihm geht. 

Übliche Elemente in staatlich geförderten Drogentherapien – wie Gespräche mit Psychologen – oder Freiheiten – wie die Erlaubnis, ein Handy zu nutzen – gibt es auf der Fazenda nicht. Dort arbeiten ausschließlich Menschen, die ihr Leben ehrenamtlich dieser Idee widmen – selbst der Hofleiter und der Padrinho, seine rechte Hand, bekommen für ihr unglaublich selbstloses Engagement keinen Cent. Im Mittelpunkt des Fazenda-Konzepts steht der Gedanke, dass die Rekuperanten in dem einen Jahr, in dem sie auf der Fazenda sind, nicht „nur“ von der Droge wegkommen, sondern ihr altes Leben vollständig hinter sich lassen. Ziel ist es, ein Mensch zu werden, der – so sagt man auf der Fazenda – „die Liebe lebt“.

Sehr eindrücklich war für mich der Besuch der Fazendagründer, also von Nelson und dem Franziskanermönch Frei Hans. Es war ein großes Glück, dass sie genau in der Zeit Gut Neuhof besuchten, als ich dort war. Beide sprachen unglaublich inspirierend darüber, was es bedeutet zu lieben. Menschen, die das Evangelium so ernst nehmen wie sie, sind mir vorher noch nie begegnet. Diese radikale Liebe, die sie predigen und mich sehr herausfordert, ja mir manchmal sogar naiv erscheint, prägt das Leben auf der Fazenda unübersehbar. Jeden Morgen wird gemeinsam ein Abschnitt aus dem Evangelium gelesen, besprochen und ein Wort ausgewählt, das den Tag über Orientierung geben soll. 

Am nächsten Tag gibt es dann immer einen Austausch darüber, in welcher Situation man das Wort gelebt hat und welche Frucht dies brachte. Zum Beispiel versuchten wir an einem Tag das Wort „Seid barmherzig und urteilt nicht!“ zu leben. Die verändernde Kraft, so der Gedanke, geht auf der Fazenda also vom Evangelium aus. Eindrücklich konnte ich erkennen, dass dieses Konzept Wirkung zeigt. So bemerkte ich in der kurzen Zeit meines Mitlebens insbesondere bei einem Rekuperanten, wie sich seine Haltung gegenüber dem Glauben und Mitmenschen fundamental änderte. 

So verlasse ich dankbar und mit vielen neuen Gedanken und Anregungen die Fazenda.

Elias