MaZ: "Ich möchte mich meinen Vorurteilen stellen"

Clara war pandemiebedingt als Missionarin auf Zeit (MaZ) in Deutschland unterwegs. Ihr letzter Einsatzort war eine Rehaklinik auf Rügen, die sich auf Kinder und Jugendliche spezialisiert hat. Wie ihr Alltag aussah, beschreibt sie in ihrem Rundbrief. 

Clara war mit den Jugendlichen oft am Strand, um gemeinsam Zeit zu verbringen.

Wenn das Leben an einem vorbeirauscht, passiert es leicht, dass man viele Dinge nicht mehr wahrnimmt oder voreilige Schlüsse zieht. In der Hektik des Alltags vergessen wir schnell das Hinterfragen von Dingen, die wir sehen oder Dingen, die uns erzählt werden. Wir akzeptieren Dinge, die uns die Mehrheit der Gesellschaft erklärt und betrachten sie als Tatsache oder zumindest als wahr. Niemand von uns ist wohl komplett frei von Vorurteilen.

In meiner Zeit als MaZlerin habe ich es mir zur Hauptaufgabe gemacht, mich gegen meine Vorurteile zu stellen, mich selbst und die gegebenen Strukturen zu hinterfragen, neue Blickwinkel zu erforschen und eben hinter die Fassade zu schauen. Ein wichtiger Abschnitt war dabei auch mein Praktikum in einer Rehaklinik für Kinder und Jugendliche. Die CJD Rehaklinik auf Rügen ist auf Atemwegs- und Hauterkrankungen, Sprachentwicklungsstörungen und vor allem auf Adipositas, also sehr starkes Übergewicht, spezialisiert.

Es ist kein Geheimnis, dass übergewichtige Menschen nicht gerade dem deutschen Schönheitsideal entsprechen. Dabei sind 2/3 aller Männer und die Hälfte aller Frauen in Deutschland übergewichtig. Übergewicht kann starke gesundheitliche Schäden hervorrufen und ist eine erhebliche Belastung für unser Gesundheits- und Sozialsystem. Bei Übergewicht treten nicht nur körperliche Probleme, wie Bluthochdruck, Diabetes oder Fettstoffwechselstörungen, auf, sondern auch viele psychische Probleme.

Besonders Kinder und Jugendliche leiden unter dem gesellschaftlichen Druck und bedürfen deswegen besonders viel Aufmerksamkeit. Kinder und Jugendliche, die aus sozial benachteiligten Familien stammen oder deren Eltern übergewichtig sind, sind besonders gefährdet. Diesen Kindern und Jugendlichen muss geholfen werden, denn oftmals können sie ohne Hilfe nicht gesund werden. In meinem Praktikum habe ich vor allem im pädagogischen Bereich der Rehaklinik gearbeitet und die Jugendlichen in dieser besonderen Zeit begleitet. 

Die Jugendlichen sind zwischen elf und 18 Jahre alt und kommen aus ganz Deutschland. Die meisten sind adipös und bleiben für vier bis sechs Wochen in der Rehaklinik. Hier durchlaufen sie verschiedene Therapien, die ihnen dabei helfen sollen, mehr über ihre Krankheit und ihren Körper zu lernen, gesunde Ernährungs- und Lebensweisen zu entdecken und natürlich auch abzunehmen. Durch Ärzte und Schwestern werden sie medizinisch betreut und überwacht. 

Sport- und Physiotherapeut*innen sorgen für viel Sport und Bewegung. Die Rehaklinik verfügt über eine Sporthalle, ein Schwimmbad und mehrere Fitnessräume, in denen die Jugendlichen auch an Geräten trainieren können. Eine Ernährungsberaterin erklärt die Bedeutung und Funktionsweise einer gesunden und ausgewogenen Ernährung und kocht mit den Jugendlichen zusammen in der Lehrküche. Die Psychologinnen kümmern sich um das psychische Wohlergehen und nehmen damit eine bedeutende Rolle ein. Sie führen auch verschiedene Adipositasprojekte durch, in denen die Jugendliche viel über ihren Körper und die Psyche lernen. Ein weiterer Bestandteil ist auch die Selbstwertgruppe, die zur Aufgabe der Psychologen gehört. 

Die Pädagog*innen und Erzieher*innen betreuen die Jugendlichen den ganzen Tag über, schauen, dass alle zu ihren Therapien gehen, das Leben mit den anderen Jugendlichen funktioniert, machen Ausflüge an den Strand, führen Gruppenprojekte durch und sorgen dafür, dass es den Jugendlichen gut geht. 

Das klingt nicht nach sehr schwierigen Aufgaben, doch die Arbeit der Pädagog*innen ist nicht zu unterschätzen, denn alle Jugendlichen sind sehr unterschiedlich und besonders, da kann auch ein UNO-Spiel mal in einer Schlägerei enden. Für mich war die Arbeit dort genau deswegen so spannend und bereichernd. Ich habe so viele junge Menschen kennengelernt, die alle ihre eigene Geschichte haben und unterschiedlicher nicht sein könnten. 

Besonders dankbar bin ich für die Dinge, die ich von den Jugendlichen lernen durfte. So habe ich gelernt, dass Übergewicht immer einen Grund hat! Niemand ist dick, weil er oder sie gerne dick sein möchte. In dem Leben der Jugendlichen gab es einen bestimmten Punkt, ein bestimmtes Ereignis, das sie nicht oder nur schwer verarbeiten können, z.B. den Tod der Mutter, die Misshandlung durch die eigenen Großeltern oder Eltern, Einsamkeit oder Mobbing in der Schule und im privaten Umfeld. Sie haben dann ihren Kummer in sich hineingefressen.

Es ist wichtig, diese Ursachen zu kennen, denn nicht nur die Folgen, also das Übergewicht und die damit einhergehenden Probleme, müssen behandelt werden, sondern eben auch die Ursachen. Das ist natürlich für die Mitarbeitenden der Rehaklinik schwer, aber man kann versuchen, einen Anfang zu machen. Für mich war es besonders schwer, die Jugendlichen in ihrer Entwicklung und Veränderung zu unterstützen, ohne ihnen das Gefühl zu geben, nicht gut, richtig und genug zu sein. Denn auch das müssen die Jugendlichen lernen: Sie sind vollwertige, liebenswerte und großartige Menschen trotz ihres Übergewichtes. 

Durch den geringen Altersunterschied zwischen den Jugendlichen und mir habe ich eine besondere Rolle einnehmen können. Ich durfte Seelsorgerin sein. Diese Aufgabe hat mir so viel Kraft gegeben. Ich konnte mir Zeit für die Sorgen und Ängste der Jugendlichen nehmen, ihnen zuhören und meine Sicht auf die Dinge mit ihnen teilen. Diese Zeit fehlt den meisten Pädagog*innen bei ihrer Arbeit, denn man muss immer die gesamte Gruppe im Blick haben und da fällt es schwer, sich Zeit für einzelne Jugendliche zu nehmen. Diese Aufgabe war nicht immer einfach für mich, denn das Leid der Jugendlichen mitzutragen, lastet schwer auf meinen Schultern und machte mich in einigen Momenten traurig und wütend, weil ich mich so hilflos fühlte. Oft konnte ich nicht viel machen, außer eben zuhören.

Nur rund 1/3 aller Patient*innen schaffen es nach dem Aufenthalt in der Rehaklinik auch Zuhause erfolgreich an sich weiterzuarbeiten. Der Grund ist, dass die Ursachen des Übergewichtes schwer zu bekämpfen sind und dies einfach sehr viel Kraft, Mut und Zeit braucht. Und häufig fehlt den Jugendlichen im Alltag die Unterstützung.

Für mich war die Zeit dort eine echte Bereicherung und jeder einzelne Jugendliche hat zu dieser Bereicherung beigetragen. Ich habe so viel mit und von den Jugendlichen lernen dürfen und habe eine ganz neue Sicht auf die Gesundheit und den Umgang mit mehrgewichtigen Menschen entwickelt.

MaZ Clara

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