MaZ: „Man müsste Brücken zwischen den Lebenswelten schlagen“

Obwohl Chile offiziell als hochentwickelte Volkswirtschaft gilt, erlebt Elias täglich, wie groß die finanziellen und strukturellen Unterschiede in den Vierteln immer noch sind. Unser Missionar auf Zeit (MaZ) erzählt in seinem Rundbrief von seinem Alltag in Südamerika.

„Ein monatlicher Mindestlohn von etwa 350.000 Pesos! Ist das gerecht? Wenn man dann noch die Beiträge für die Versicherungen abzieht, bleiben nur noch knapp 300.000! Und das bei durchschnittlichen Mieten von 310.000 Pesos in unserem Viertel! Von was soll man denn dann leben?“ Vor mir steht die emotional aufgewühlte Sabrina. Sie kann es nicht fassen, dass sie trotz ihrer jahrzehntelangen tagtäglichen Arbeit in unterschiedlichen sozialen Einrichtungen als Köchin mit solch existentiellen Sorgen konfrontiert ist. In meinem Alltag in Recoleta, einer ärmeren Kommune Santiagos, werden mir in zahlreichen Gesprächen die Auswirkungen der sozialen Ungerechtigkeit in Chile immer wieder aufs Neue vor Augen geführt.

Chile gilt wegen seines Wirtschaftsaufschwungs in den letzten Jahren nicht ohne Grund als Vorzeigeland Südamerikas – so zählt Chile etwa aufgrund der geringen Korruption nach UN-Definition zu den hochentwickelten Volkswirtschaften. Allerdings profitiert die chilenische Bevölkerung davon sehr ungleich. Während das noch aus der Pinochet-Diktatur stammende, extrem neoliberale Wirtschaftsmodell – etwa aufgrund der geringen Unternehmensbesteuerung – für einige Anhäufung großen Reichtums ermöglicht, arbeiten etwa 50 Prozent der Chilenen im Niedriglohnsektor und verdienen nach UN-Angaben zu wenig, um eine durchschnittliche Familie alleine versorgen zu können. Die Politik habe versagt und die Bedürfnisse der Menschen über Jahrzehnte vernachlässigt – darüber sind sich fast alle einig, mit denen ich in Recoleta spreche.

Es haben sich Strukturen etabliert, die es für viele Menschen fast unmöglich machen, sozial aufzusteigen. Insbesondere die ungleichen Bildungschancen zementieren die soziale Kluft: Eine qualitativ hochwertige Bildung ist zumeist nur denen zugänglich, die sich die hohen Kosten für die privaten Kindergärten, Schulen und Universitäten leisten können. Angetrieben von der Hoffnung auf eine bessere Zukunft ihrer Kinder arbeiten deshalb etwa viele meiner Kolleginnen neben ihrer Vollzeitstelle als Kindergärtnerin und dem oft zeit- und kraftintensiven Kümmern um Familienmitglieder zusätzlich noch nachts etwa als Essensverkäuferin auf der Straße oder im Minimarkt.

Und auch das Gesundheitssystem Chiles spaltet die Gesellschaft: Einerseits gibt es die etwa 25 Prozent Privatversicherten, denen durch ihr hohes Einkommen das Privileg einer medizinischen Versorgung nach hohen europäischen Standards gegeben ist; andererseits hat die große Mehrheit der Menschen (75 Prozent) zumeist nur die Möglichkeit, in den staatlichen Gesundheitsfond einzuzahlen, wodurch sie nur die vom Staat zur Verfügung gestellten Leistungen in Anspruch nehmen können, was zum Beispiel oft jahrelange Wartezeiten aufgrund der begrenzten Behandlungskapazitäten bedeutet. Auch werden von der staatlichen Versicherung überwiegend nur grundlegende medizinische Leistungen und nicht etwa teure Medikamente oder komplexe Operationen bezahlt. Das führt zu dramatischen Situationen, wenn – wie es in unserem Umfeld wiederholt vorkam – etwa ein Kleinkind an Leukämie erkrankt und die Familie vor dem schier aussichtslosen Unterfangen steht, so viel Geld zu sammeln, dass die kostspielige medizinische Behandlung finanziert werden kann.

Mich erfüllt diese Ungerechtigkeit mit Wut. Gleichzeitig bin ich aber stark beeindruckt von dem aufopferungsvollen Einsatz insbesondere vieler Frauen und der großen Bereitschaft, sich untereinander etwa mit Spenden für die erkrankten Kinder zu helfen.

Momentan ist in meinem Wohnviertel eine oft euphorische Aufbruchsstimmung zu spüren, deren Anlass der Amtsantritt des neuen, sozialistisch eingestellten Präsidenten Borics ist. Er präsentiert sich sehr volksnah und verkörpert die Hoffnung auf ein sozial gerechteres Chile. Für viele Menschen in meinem Viertel scheint die Möglichkeit eines tatsächlichen politischen Kurswechsels so realistisch wie nie zuvor – auch weil zudem derzeit an einer neuen, sozialer ausgerichteten Verfassung gearbeitet wird, die dann die aktuell noch geltende, aus Diktaturzeiten stammende Verfassung ersetzten soll.

Das war zumindest noch im vergangenen Jahr die Ansicht von 78 Prozent der Chilenen – heute weisen neueste Umfragen darauf hin, dass nur noch weniger als die Hälfte der Bevölkerung bei der kommenden Abstimmung über die Annahme der Verfassung mit „Ja“ votieren würde. So wird mir hier immer wieder bewusst, dass es – je nach dem, in welcher Kommune Santiagos man sich bewegt – extrem unterschiedliche Lebensrealitäten und somit auch teils konträre Ansichten über die aktuelle Umbruchssituation in Chile gibt. Gerade in den reicheren Bezirken Santiagos ist eine enorme Angst vor einem Zerfall der Wirtschaft aufgrund von Borics scheinbar kommunistischen Vorhaben verbreitet. Meiner Meinung nach ist es sehr bedauerlich, dass sich die Menschen aus den verschiedenen Kommunen fast nie begegnen und es so auch nur wenig zum persönlichen Austausch über mögliche Hoffnungen und Sorgen kommen kann. Dadurch ist die Möglichkeit, Brücken zwischen den unterschiedlichen Lebenswelten in Santiago zu bauen und somit die soziale Kluft zu verringern, oft leider erst gar nicht gegeben.

Ich bin sehr dankbar über das Privileg, im Laufe meines Freiwilligendienstes einen Einblick in ganz verschiedene Realitäten erhalten zu dürfen. Und so arbeite ich jetzt seit zwei Monaten neben meiner Stelle im Kindergarten auch noch in den Abendstunden in der Residencia. Dort wohnen etwa zwanzig ehemals obdachlose Menschen für eine längere Zeit, bis es so weit ist, dass sie wieder weitestgehend selbstständig in einer Wohnung leben können. Meine Arbeit in der Residencia ist sehr frei – und so verbringe ich viele Stunden damit, mich zu unterhalten oder etwa gemeinsam Karten oder Tischtennis zu spielen. Einfach eine schöne Zeit zu haben und das zu machen, was dem Einzelnen gut tut – so könnte ich meine „Beziehungsarbeit“ in der Residencia beschreiben. Oft bin ich über die Offenheit der Menschen dort sehr beeindruckt und freue mich daran, was für vielfältige Talente zum Vorschein kommen, wenn man eine engere Beziehung aufbaut: Nico bringt mir Zaubertricks bei, Augustina hat Spaß daran, nach Kreol, Französisch, Englisch und Spanisch auch noch Deutsch zu lernen und Claudio weiß so ziemlich alles über – insbesondere klassische – Musik und taucht in andere Sphären ein, wenn er gerade die Melodien Beethovens oder Händels summt.

Ein Höhepunkt der letzten Wochen war ein Ausflug in der Gondel auf den im Zentrum Santiagos gelegenen Berg „SanCristóbal“ mit einigen Bewohnern der Residencia. Selten habe ich erlebt, dass bei einem Ausflug vor lauter Begeisterung so viele Fotos gemacht wurden. Und als dann auch noch Juan, einer der Residenciabewohner, mir sein Handy zeigte, auf dem er gerade als neues Hintergrundbild eines der soeben geschossenen Gruppenfotos eingestellt hatte, realisierte ich, wie gut es allen getan hatte, eine Zeit lang Teil einer Gemeinschaft zu sein.

Denn so unterschiedlich die Biografien der Residenciabewohner auch sind, habe ich den Eindruck, dass sich viele der Menschen aus der Residencia sehr stark nach einer guten Beziehung zu ihrer Familie sehnen, die gerade in Chile von großem Stellenwert ist. Für mich war es besonders am Anfang meiner Zeit in Chile erstaunlich, wie viel ich zu meiner Familie befragt wurde. Wie soll es sich dann für Menschen anfühlen, die durch Obdachlosigkeit oft nicht nur an den Rand der Gesellschaft, sondern auch an den Rand ihrer Familien gedrängt wurden?

Umso berührender ist es für mich, Tag für Tag aufs Neue zu spüren, wie herzlich ich von den Menschen in der Residencia willkommen geheißen werde. Nicht nur sie, sondern auch ich habe in der Residencia eine Heimat gefunden. Mein Traum von einer Gesellschaft, in der Gräben überwunden werden, erfüllt sich so zumindest manchmal im Kleinen.

Elias

 

Quellen:

https://amerika21.de/2017/06/178334/un-bericht-chile

https://www.dw.com/de/chiles-zwei-klassen-medizin/a-5199421-0

https://www.boell.de/de/2013/09/10/spaltung-profit-und-ungleichheit-das-chilenische-gesundheitssystem-40-jahre-nach-dem

https://www.ila-web.de/ausgaben/431/ein-gesundheitssystem%E2%80%89das-krank-macht#footnote3_g2dkoip