MaZ: Wahnsinn, wie die Zeit vergeht!

Wie Festtage wie Allerseelen und Weihnachten in Bolivien gefeiert werden, beschreibt Johanna in ihrem Rundbrief und erzählt von Ausflügen in die Salzwüste und einer Reise in die Vergangenheit.

Johanna bei der Arbeit

Weihnachten und Neujahr waren für mich dieses Mal ganz anders als ich es bisher kannte. Statt wie sonst Heiligabend und die Feiertage mit meiner Familie zu verbringen, habe ich dieses Jahr Weihnachten gemeinsam mit anderen Freiwilligen gefeiert. Wie jedes Jahr war ich am Abend in der Kirche, doch selbst bei „Stille Nacht, Heilige Nacht” konnte ich nicht wie sonst mitsingen, da ich nicht den ganzen Text auf Spanisch kenne. Typisch ist hier, dass an Weihnachten eine Christusfigur in die Kirche mitgebracht wird, die dann am Ende der Messe gesegnet wird.

Auch wenn diese Feiertage für mich dieses Mal komplett anders waren, habe ich sie sehr genossen und wir haben uns einen wunderschönen Abend zusammen gemacht, so dass in mir doch noch etwas Weihnachtsstimmung aufgekommen ist.

Silvester habe ich gemeinsam mit zwei anderen Freiwilligen und mit bolivianischen Bekannten verbracht. Typischerweise wurde an diesem Abend gegrillt und um Mitternacht gab es auch ein kleines Feuerwerk. Ich bin gut in das neue Jahr gestartet.

Seit meinem letzten Bericht ist viel passiert. Zum einen hat inzwischen die Regenzeit hier in Cochabamba begonnen. Auch wenn ich den trockenen Frühling hier lieber mochte, hat die Regenzeit für mich etwas Magisches an sich. Das Schönste ist für mich, dass nach einem Regenschauer häufig ein Regenbogen auftaucht, da die Sonne meist nicht lange auf sich warten lässt.

In der Arbeit darf und kann ich inzwischen schon mehr mithelfen. Zum Beispiel haben wir Fragebögen über allgemeine Informationen und den Drogenkonsum unserer Klient*innen. Die meisten dieser Fragen kann ich inzwischen auswendig und über Gespräche mit den Menschen kann ich viel über sie erfahren und die Fragebögen nach der Aktivität im Büro dann ausfüllen. Das hilft uns, die Leute besser kennenzulernen, sie einzuschätzen und ihnen individuell zu helfen. Die Fragen bieten zum Beispiel einen Ansatzpunkt zur Verbesserung ihrer Lage, indem wir herausfinden, wie das Verhältnis zu ihren Familien ist, ob die Person Motivation hat, die Straße zu verlassen und man kann somit auch Fortschritte bzw. Rückfälle schneller feststellen, z.B. Verringerung des Drogenkonsums, etc.

Es ist mir durch meine Arbeit klargeworden, was mir auch schon in unserem Vorbereitungsseminar, der Woche in Frankfurt, bewusst geworden ist: Es ist ein großes Glück, wo und in welche Familie man hineingeboren wird und es ist selten die alleinige Verantwortung der Person auf der Straße, dass sie ein solches Leben führt/führen muss. Häufig haben schon die Eltern der Menschen auf der Straße Probleme. Sie gehen schlecht mit ihren Kindern um und diese fliehen vor der Gewalt zuhause und wollen oder können somit nicht zurück zu ihren Eltern. Durch das schlechte Sozialsystem in Bolivien landen somit viele dieser jungen Menschen auf der Straße oder einige werden sogar dort geboren und großgezogen.

Durch die Arbeit habe ich auch nochmal vermehrt zu sehen bekommen, wie korrupt die Polizei hier ist. Einen Tag vor Día de los Muertos (= Allerseelen) kam ich in der Früh in das Büro und meine Kolleg*innen sagten zu mir, es gäbe einen Notfall und so sind wir gleich los. Wir fuhren zu der Stelle, wo sich das „Haus” (hier wird dies „Pawichi“ genannt; der Ort, an dem eine Gruppe schläft, isst, gemeinsam lebt, solange sie nicht arbeiten sind) einer der Straßengruppen, mit denen wir arbeiten, befand. Doch anstatt des Hauses, fanden wir Straßenarbeiter*innen mit Heckenscheren vor. Von dem Pawichi war nichts mehr zu sehen, es war vollständig abgerissen worden. So waren auch die Bewohner*innen nicht aufzufinden. Etwas weiter die Straße entlang, wohnt eine andere Gruppe. Dort waren viele Polizeiwagen und auf der Ladefläche hinten drauf saßen einige „unserer Leute”. Die Beamt*innen suchten sie im Kakteengebüsch und zogen sie auch mit Gewalt heraus.

Als ich fragte, warum das alles geschieht, haben mir die Mitarbeiter*innen erklärt, dass es aufgrund des kommenden Feiertages ist. Die Obdachlosen zeigen kein gutes Bild des Landes und „stören das Stadtbild” in den Augen des Staates und anderer Bürger*innen. Deswegen sammelt die Polizei sie für diesen Tag ein und sperrt sie in den Gefängnissen oder auf den Polizeirevieren ein. Nach dem Feiertag werden sie dann wieder freigelassen. Dass eines der Pawichi komplett abgerissen wurde, hängt damit zusammen, dass sich dieses gegenüber dem zentralen Friedhof befand und es so natürlich alle sehen würden, wenn sie an Allerseelen zu den Gräbern gehen.

Wir konnten an diesem Tag nichts machen und den Menschen nicht wirklich helfen. Es war für mich ein schreckliches Gefühl nur zuzuschauen und dazustehen und zu sehen, wie die Menschen, die ich inzwischen schon gut kenne, von den Polizisten wegtransportiert wurden, als wäre ihr Leben nichts wert und ich konnte es nicht fassen, dass wir gar nichts dagegen tun konnten. Das einzige war, dass unsere Leute uns an diesem Tag gesehen haben als wir am Straßenrand standen, was ihnen vielleicht doch etwas Hoffnung und Sicherheit gab, dass wir für sie da sind und sich jemand für sie interessiert.

Ein paar Tage nach diesem Ereignis hatten wir wieder eine Aktivität mit einer der Gruppen und ein Mann erzählte mir von seiner Zeit. In den Stunden oder auch mal Tagen, in denen sie im Gefängnis oder auf dem Polizeirevier sind, bekommen sie keine Nahrung und häufig gibt es auch keine Matratze zum Schlafen.

Ein anderer Mann kann seit fünf Jahren nichts mehr sehen, weil die Polizei Tränengas eingesetzt hatte. Und ein weiterer hat mir erzählt, dass er einmal durch das Fensterputzen auf der Straße 10 Bolivianos zusammengespart hatte, um sich ein Medikament zu kaufen, welches er dringend benötigte. Die Polizei jedoch, weiß inzwischen, zu welcher Uhrzeit die Menschen etwas Geld zusammen haben und manchmal kommt sie dann und zwingt sie, dass Geld ihnen abzugeben. Die Begründung ist, dass das Fensterputzen keine richtige und keine angemeldete Arbeit ist. Auch bei dem Mann, der das Medikament so dringend benötigte, war dies der Fall.

Zum Glück konnten wir inzwischen wieder Kontakt zu der Gruppe, deren Pawichi abgerissen wurde, aufnehmen und haben ihren neuen Standort kennenlernen dürfen.

Besonders die Arbeit auf der Straße mit den Menschen macht mir richtig Spaß und ich habe das Gefühl, dass ich viel lernen kann. So habe ich kaum noch Berührungsängste, die ich anfangs vielleicht doch noch manchmal mitgebracht habe und auch meine Vorurteile wurden vollständig abgebaut. Auch wenn es oft sehr bedrückend ist, was mir die Personen von sich und ihrem Leben erzählen, freut es mich immer, wenn sie mit mir ein Gespräch anfangen und sich mir gegenüber öffnen.

Auch in meiner Freizeit habe ich viel Neues erlebt und noch einmal ein Stück mehr der Kultur kennengelernt.

Día de los Muertos, Allerseelen, wird hier ganz anders, als ich es von Deutschland kenne, gefeiert. Es wird daran geglaubt, dass die Verstorbenen für 24 Stunden auf die Erde kommen, um den Tag mit ihren Liebsten zu verbringen. Für den*die Verstorbene*n wird ein Tisch mit Blumen, Zigaretten, Coca, besonderem Gebäck (T`anta wawa) und Gerichten, die der*die Tote gerne gegessen hatte, gedeckt. Jeder dieser Gegenstände hat eine bestimmte Bedeutung. Zum Beispiel gibt es T`anta wawas in Form von Leitern, die das Herabkommen, des*der Verstorbene*n erleichtern sollen. Auch typisch für diesen Festtag sind riesige Schaukeln, die Wallunkas genannt werden. Sie stellen symbolisch dar, wie die Verstorbenen auf die Erde kommen und für den Spaß dürfen alle Frauen, von der Schaukel aus, Gegenstände mit den Füßen fangen, die sie dann behalten dürfen. Am zweiten November bringen dann viele Familien die Speisen von dem Tisch zu den Gräbern ihrer Verstorbenen und feiern dort weiter.

Ein weiteres Erlebnis für mich Anfang November war mein Besuch bei dem Weihbischof von Sucre, Padre Adolfo Bittschi. Der Padre kommt ursprünglich aus Eichstätt, ist jedoch seit 1983 in Bolivien tätig. Mein Papa war in den Jahren 1985/86 bei ihm und hat in der Landespfarrei Incahuasi mitgearbeitet. Padre Adolfo hat mich in diese Pfarrei mitgenommen und ich durfte bei drei Firmungen dabei sein. Für mich war es etwas sehr Besonderes, nun fast 40 Jahre nach meinem Papa an demselben Ort zu sein und kennenzulernen, wo er damals gelebt und gearbeitet hat. Das Leben auf dem Land unterscheidet sich schon etwas von dem, welches ich aus Cochabamba kenne. Mir kam es so vor, dass dort noch alles etwas einfacher und auch traditioneller ist. Viele der Einheimischen haben viel Quechua gesprochen und somit habe ich leider nicht alles verstanden. Dennoch waren alle Menschen sehr herzlich.

Über meine Arbeitskolleg*innen bin ich in eine Musikgruppe (Autóctona Wamay) gekommen. Diese spielt typische Volksmusik auf einem Instrument, das Siku genannt wird und Ähnlichkeiten mit einer Panflöte hat. Das Besondere daran ist, dass man das Instrument nicht alleine spielen kann, sondern immer eine*n Partner*in braucht, da die Noten auf “Iras” und “Arkas” (führende*r und antwortende*r Spieler*in) aufgeteilt sind.

Zunächst habe ich zusammen mit Student*innen der öffentlichen Universität geübt, da meine Kolleg*innen die Studierenden unterrichteten. Gemeinsam haben wir dann am ersten Dezemberwochenende bei der Uni-Entrada gespielt. Es war ein riesiger Umzug anlässlich des Uni-Jahresende, bei dem viele verschiedene Gruppen durch die Stadt gezogen sind und getanzt oder Musik gespielt haben. Für mich war es ein wundervoller Tag und sehr beeindruckend, mittendrin dabei zu sein und ich hatte sehr viel Spaß dabei.

Was ich an der bolivianischen Kultur lieben gelernt habe, ist die Großzügigkeit, das Teilen und das Sorgen füreinander. So wird zum Beispiel in den Mittagspausen in der Arbeit darauf geschaut, dass alle satt werden und wenn ich selbst mal etwas weniger Essen dabeihabe, geben mir meine Arbeitskolleg*innen etwas von ihrem Essen ab, auch wenn ich sage, dass ich gar nichts mehr brauche. Beim Trinken wird man immer eingeladen, Alkohol wird hier nie allein getrunken. Die Flasche oder das Getränk wird weitergereicht, davor muss jedoch ein „Salud” gewünscht werden.

Oft merke ich selbst gar nicht mehr, dass ich hier als Nicht-Einheimische so stark auffalle, da ich mich so wohl fühle. Doch wenn ich dann wieder Choca (= Bezeichnung für Hellhäutige) genannt werde, im Trufi angestarrt werde oder Äußerungen über meine Augenfarbe bekomme, dann merke ich wieder, dass ich nicht von hier komme.

Insbesondere bei Bemerkungen über mein Äußeres fühle ich mich oft unwohl. Häufig ist es hier immer noch so, dass helle Haut als etwas Besonderes und als schön angesehen wird. Mir fällt dies sehr schwer, da es für mich klar ist, dass die Hautfarbe einen nicht zu einem besseren oder schöneren Menschen macht. Daran merke ich jedoch, wie stark die Geschichte und der Kolonialismus immer noch die Gesellschaft hier prägen und wie wichtig es ist, sich damit auseinanderzusetzen.

Jetzt gerade sind Sommerferien und auch die Fundación hat für zwei Wochen geschlossen. Zwischen Weihnachten und Silvester war ich in Salar de Uyuni, der größten Salzwüste der Welt. Schon auf der Hinfahrt schlängelte sich der Bus durch beeindruckende Landschaften. Der Boden ist teilweise aus Sand, wie man ihn vom Strand kennt, daneben kleine Weiher und riesige Berge mit roten Felsen, zwischendrin wieder grüne Wiesen. Es ist ein bunter Mix allermöglichen Formen der Natur, unglaublich! Auch die Tour selbst in Salar war unbeschreiblich schön! Die Landschaft wirkte oft wie gemalt und ich konnte gar nicht fassen, dass das, was ich sehe, alles echt ist. Wir sind durch die Salzwüste gefahren, haben Lagunen in den verschiedensten Farben bestaunt und Geysire gesehen. Auch die Tierwelt dort war sehr beeindruckend. So habe ich unglaublich viele Flamingos, Vikunjas und Vizcachas beobachten können.

Hier in Cochabamba sieht man, seit die Sommerferien begonnen haben, vermehrt Kinder auf den Straßen, die zwischen den Straßenkreuzungen Süßigkeiten oder andere kleine Gegenstände verkaufen oder Tricks aufführen, während die Autos bei Rot warten. Es macht mich traurig, so viele junge Menschen zu sehen, die ihren Eltern in ihren Ferien helfen müssen, um genügend Geld für die Familie zu verdienen. Dies lässt mich oft an meine eigene Kindheit zurückdenken, in der ich in meiner freien Zeit mit meinen Freund*innen und Geschwistern gespielt habe. Ich bin wirklich dankbar und schätze es sehr, dass ich so behütet aufgewachsen bin.

Das Leben hier aber auch an allen anderen Orten hat Höhen und Tiefen und ich bin froh, dass ich alles so hautnah miterleben darf. Es ist aufregend, schön, herzzerreißend und manchmal blöd und unfair. Doch ich freue mich und bin gespannt, was das neue Jahr für mich bereithält.

Johanna

Johanna bei der Arbeit
Naturschauspiel: Geysire
Regenzeit in Bolivien
In der Salzwüste
Festlich gedeckter Tisch zu Allerseelen
Beim Straßenumzug
Gemeinsam mit ihrer Musikgruppe trat Johanna auf
Nagetierart aus der Familie der Chinchillas
Weihnachten mit anderen Freiwilligen