Eigentlich klingt der Leitgedanke fast selbstverständlich. Zumindest in der Theorie: „Wo Menschen Not leiden, sehe ich mich verpflichtet, zu helfen“, betont Ayse Ilter. Doch die 1978 in Aachen geborene, in Düren wohnende und in Stolberg arbeitende Muslima möchte diesen Grundsatz auch in der Praxis mit Leben füllen. Gerade in Zeiten, in denen weltweit unterschiedliche Meinungen, Weltanschauungen und auch Religionen konfrontativ aufeinanderprallen, möchte sie „das Miteinander“ in den Mittelpunkt ihres Handelns stellen. So durchläuft Ayse Ilter derzeit am in Osnabrück angesiedelten Islamkolleg Deutschland (siehe Infobox) die einjährige Ausbildung zur ehrenamtlichen islamischen Seelsorgerin. Teil dieser Ausbildung ist ein Seelsorgepraktikum, das die studierte Wirtschaftsgeographin derzeit in den Gemeinden der Katholischen Kirche in Eschweiler absolviert.
„Mein Interesse gilt nicht zuletzt der Seelsorge für Frauen. In dieser Hinsicht habe ich im Internet gestöbert und bin auf der Homepage des Bistums Aachen fündig geworden“, berichtet Ayse Ilter. Sie nahm Kontakt auf zu Dr. Annette Jantzen, Frauenseelsorgerin des Bistums für die Regionen Aachen-Stadt und Aachen-Land, die wiederum die Telefonnummer von Schwester Martina, Pastoralreferentin im Pastoralteam der katholischen Gemeinden in Eschweiler, wählte und das Anliegen der Muslima weitergab. „Eine vergleichbare Anfrage hatte mich bis dahin noch nicht erreicht“, denkt die Ordensfrau an den Anruf, der aber in keinster Weise auf taube Ohren stieß, zurück. Das Ansinnen von Ayse Ilter stellte Schwester Martina dann im Pastoralteam vor und erhielt dort positive Reaktionen. „Generell bin ich sehr offen an- und aufgenommen worden und habe viel positives erlebt“, zieht Ayse Ilter ein Zwischenfazit.
Mit zwei Treffen, bei denen die Muslima und die Schwester die Leitlinien des Seelsorgepraktikums festlegten, startete das Projekt im März. Seitdem hat Ayse Ilter unter anderem im Bereich der Einzelseelsorge Erfahrungen sammeln können, hat an Treffen des Trauergesprächskreises teilgenommen und wurde von Frank Klinkenberg, Seelsorger an der Bischöflichen Liebfrauenschule, an das Thema der Schulseelsorge herangeführt. Doch die Gelegenheit zum Austausch wurde weit darüber hinaus genutzt. „Der Beginn des muslimischen Fastenmonats Ramadan fiel mit dem vierten christlichen Fastensonntag zusammen. Dies war für uns ein guter Anlass, Ayse Ilter einzuladen, während der Gottesdienste in den Kirchen St. Peter und Paul sowie St. Antonius Röhe Zeugnis abzulegen, was der Ramadan für Muslime bedeutet“, berichtet Schwester Martina. Und die Reaktionen? „Die Menschen haben spontan geklatscht. Nach den Gottesdiensten kam es zu Gesprächen, die für mich und hoffentlich auch für die anderen Gesprächsteilnehmer bereichernd waren. Dabei haben wir uns über Themen wie Seelsorge, Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede zwischen den Religionen, Menschenrechte oder auch die Rolle der Frau ausgetauscht“, lässt Ayse Ilter wissen. Es folgten eine Einladung in die Frauengruppe der Katholischen Kirche in Eschweiler und weitere Gespräche.
Ende Juni wird das Seelsorgepraktikum in den Eschweiler Gemeinden zu Ende gehen. Bald darauf hofft Ayse Ilter, als ehrenamtliche islamische Seelsorgerin zertifiziert zu sein. Dann möchte sie für Menschen, die Not leiden oder Hilflosigkeit verspüren, bereitstehen. „Ich werde sicherlich nicht grundsätzlich die Lösung des Problems sein, aber vielleicht kann ich den Weg zur Lösung weisen“, so ihre Hoffnung und auch Zielsetzung. Dabei ist Ayse Ilter überzeugt, dass jede Begegnung mit anderen Menschen wertvoll sein kann und zur eigenen Persönlichkeitsbildung beiträgt.
Die Bandbreite an Menschen, die der Seelsorge bedürfen, sei groß und werde stets größer, sind die Muslima und ihre christliche Praktikumsbegleiterin überzeugt. Klar sei, dass jeder Mensch anders trauere, aber jeder Mensch trauere. Und zwar unabhängig seiner Religion oder Weltanschauung. „Übrigens werde ich nicht im Auftrag einer Moscheegemeinde tätig sein“, erklärt die Ehrenamtlerin, die das Miteinander als Zeichen des Friedens versteht. „Wir alle leben in einer Welt und müssen dort Mensch sein in einer Gemeinschaft von Menschen“, lautet ihr Appell, dem Schwester Martina nur zustimmen kann. Es gelte, Unterschiede auch positiv anzunehmen. Und zwar sowohl innerhalb der eigenen Gemeinschaft als auch darüber hinaus. „Interreligiöse Zusammenarbeit ist in einer Zeit, wie wir sie derzeit erleben, von größter Bedeutung. Es ist enorm wichtig, Brückenbauer zu finden, um Feindbilder, Vorurteile sowie Ab- und Ausgrenzung überwinden zu können“, unterstreicht die Pastoralreferentin.
Den Kontakt zu Schwester Martina und den Gemeinden der Katholischen Kirche in Eschweiler möchte Ayse Ilter auch nach Abschluss des Seelsorgepraktikums aufrechterhalten. Mit dem Zertifikat in der Tasche plant die Ehrenamtlerin, ein Netzwerk aufzubauen, um hilfreich wirken zu können und vielleicht auch strukturellen Defiziten in der Gesellschaft etwas entgegenzusetzen.
Text und Foto: Von Andreas Röchter
Diesen Beitrag durften wir mit der freundlichen Genehmigung von Andreas Röchter, Medienhaus Aachen - Redaktion Eschweiler/Stolberg, veröffentlichen. Vielen Dank. Erschienen am 13.06.2024 in der Aachener Zeitung.