Vom Vielen, vom Einen und vom Gebet

Im kontemplativen Beten findet manche*r Wege zur Einheit mit sich selbst, GOTT und den Mitmenschen. Wie kann dieses Beten aussehen? Ein Annäherungsversuch – oder drei.  

Knappe Ressourcen, knappe Zeit, Unfriede, Unrecht, Zerstörung: Es ist alles so viel und scheint so zerrissen – bei mir selbst im Kleinen wie im größeren Zusammenleben.

Da lobe ich mir die Zeiten, in denen einfach nur Stille ist. Dann setze ich mich hin, auf meine Gebetsbank. Schalte Klingel und Telefon aus. Zünde eine Kerze an. Schließe die Augen und atme. Verbinde mich mit der Einen. Ahne, wie Friedenskraft strömt. Lasse Gedanken los. Bete ein Meditationswort im Rhythmus des Atems und bin einfach nur da. Höre die Stille. Tauche ab. Tanke auf.

Gern hätte ich hier einen ganzen Artikel über die Schönheit dieses Betens geschrieben: Regelmäßig in die Stille gehen, Kraft schöpfen und aus der Einheit leben – ja, stark! Wer diese Art zu beten näher kennenlernen möchte, dem*der sei das Buch aus der Infobox empfohlen oder das Einführungs-Wochenende aus dem in:spirit-Jahresprogramm.

Viel häufiger aber, so ehrlich will ich sein, bleibt meine Gebetsbank leer. Wenn mal wieder alles besonders viel ist, besonders chaotisch, besonders knapp, besonders zerrissen. Dann ist das Kontemplative wohl doch nicht meins. Oder? Gerade dann werde ich dünnhäutig und irgendwann platzt mir die Hutschnur. Dann werfe ich GOTT alles vor die Füße. Den Krieg. Die Ohnmacht. Den Schmerz, der sich in Tränen nicht auflösen will. All das wortlose Ringen. Die Vergeblichkeit. Das Viele, die Scherben, die Wut. Ich bestürme den Himmel, schimpfe und klage. Bis mir irgendwann die Worte ausgehen. Ich bin erschöpft, wie nackt, leer. Ich atme. Das Schwere ist noch da, nichts ist weggezaubert. Nur eins hat sich verändert: Ich bin endlich einfach da. In der Gegenwart der Einen, die auch einfach da ist: GOTT. Ist das wohl auch Kontemplation? Ich wage zu sagen: Ja.

Doch es muss nicht so spektakulär eskalieren. Eine weitere Erfahrung, die ich kontemplatives Beten nennen möchte, begleitet meinen Alltag. Momente, in denen ich kurz andocke: ein Kaffee in der Frühlingssonne, ein Innehalten im konfliktiven Gespräch, ein Kreuzzeichen auf die Stirn des Kindes. Sekundenmomente, in denen ich mich erinnere: Ich bin da. GOTT ist da. EINS! Verbunden. Als Bekenntnis, als Wunsch, als Seufzer.

Drei Formen kontemplativen Betens und Lebens: manche alltäglicher, manche expliziter. Manchmal helfen sie mir konkret, manchmal nicht. Aber immer wieder verbinde ich mich mit der Einen. Auch und gerade dann, wenn alles viel und manchmal viel zu viel ist. Denn ich lebe in Zerrissenheit, die ich nicht überbrücken kann. Gleichzeitig glaube ich an eine, die einfach EINS ist und darin Platz hat für all die vielen Teile, die nicht zusammenpassen wollen. Mehr nicht. Weniger nicht.

Text: Mirjam Gödeke, aus dem in:spirit Magazin zum Thema EINS

Foto: Anne-Sophie Dessouroux

Info: Das lateinische Wort contemplatio kann man etwa mit Betrachtung übersetzen. Als christliche Gebetsform versteht sich die Kontemplation als still schauendes und hörendes Verweilen in der Gegenwart GOTTES.
Literaturempfehlung: Seethaler, Karin: Der Weg der Kontemplation. Würzburg, 2021.