Magazin: Zwischen den Welten

Vogelgezwitscher, Motorengeheule, Meeresrauschen – für die meisten Menschen sind diese Geräusche einfach da und selbstverständlich. Nicht für Marianne Siegenführ. Die 25-Jährige ist taub und daher auf Hilfsmittel angewiesen, um aus ihrer stillen Welt auszubrechen. Ein Portrait.

Schwungvoll fährt Marianne mit ihrem kleinen, blaubeerfarbenen Auto um die Kurve und grinst mich fröhlich durch die runde Brille an, die sich markant von ihrem schmalen Gesicht abhebt. „Lang‘ nimmer gsehn‘!“, ruft sie mir in ihrem badischen Dialekt zu und räumt noch schnell den Beifahrersitz frei, bevor ich einsteigen kann. Kurze Zeit später sitzen wir in mediterranem Ambiente in einem ihrer Lieblingsrestaurants in Hofweier, wo sie regelmäßig mit ihren Freundinnen Essen geht. Während Marianne das Menü studiert, blicken ihre blauen Augen immer wieder verhalten in meine Richtung, scheinbar unschlüssig, was sie von dem Abend zu erwarten hat. Denn unser Essen ist nicht nur ein Wiedersehen zwischen alten Freundinnen: Ich habe sie gebeten, mir ihre Geschichte zu erzählen. Und die beginnt mit den zwei Plastikkreisen an ihrem Hinterkopf, die unter den rötlich-blonden Haaren auf den ersten Blick kaum zu erkennen sind. Einer braun, einer beige. Die zwei nicht symmetrisch angebrachten Kreise sind ihre Verbindung zur hörenden Welt.

Denn Marianne ist von Geburt an taub. Erst mit den Cochlea-Implantaten*, die ihr im Alter von zwei und zwölf Jahren eingesetzt worden sind, hat sie die Chance, aus ihrer sonst so stillen Welt auszubrechen. An die erste OP erinnert sie sich nur vage. Es sind mehr die Erinnerungen ihrer Mutter und ein paar alte Hochglanz-Fotos, die ihr eine Idee von dem Moment geben, als sie mit blauem Auge, einem dicken Verband um den Kopf und dem ersten Implantat im Ohr in ihrem Krankenhausbett aufwacht. Umso besser kann sich Marianne an die zweite OP erinnern. Orientierungslos sei sie gewesen, als sie im Aufwachraum zu sich gekommen ist. Nachdem sich die erste Verwirrung gelegt hatte, ging es ihr jedoch erstaunlich gut, sodass sie schon wenige Tage später nach Hause durfte. Sogar am „Fasents-Umzug“ im Dorf konnte sie teilnehmen – ihr größter Wunsch zu dem Zeitpunkt. Nur der Kopf war etwas schwer. „Als hätt‘ mir jemand Backsteine eingepflanzt“, sagt sie und lacht verhalten.

Zum Glück hielt dieses Gefühl nicht lange an und Marianne lernte, mit den Geräten umzugehen und ihren neu gewonnenen Gehörsinn für sich einzusetzen. Auch für die Sprachentwicklung war die frühe OP enorm wichtig. Heute ist ihrer Sprache nicht anzumerken, dass sie die ersten zwei Jahre ihres Lebens nichts hören konnte. Das habe sie zum Großteil ihren Eltern zu verdanken, verrät mir Marianne. Trotz ihrer Taubheit haben sie ihre Tochter immer wieder aktiv angesprochen, mit viel Geduld und der Überzeugung, dass es Marianne später helfen würde. Im Laufe der Zeit hat sie dadurch das Lippenlesen gelernt und trainiert.

Diese Fähigkeit demonstriert sie mir eindrücklich, als sie mit einer raschen Handbewegung die magnetischen Plastikenden von ihrem Hinterkopf löst und damit die Verbindung zur lauten Geräuschkulisse im Restaurant kappt. Hören kann sie mich jetzt nicht mehr. Erwartungsvoll schaut sie mich an und ermutigt mich dazu, dass ich sie auf die Probe stelle. Langsam und deutlich versuche ich einen Satz zu artikulieren, den Marianne mit fester Stimme wiederholt und mir dabei konzentriert auf die Lippen blickt. Sie versteht mich tatsächlich.

Als sie die Geräte wieder anstellt und wir das Gespräch fortsetzen, schaut sie mir aufmerksam in die Augen und konzentriert sich auf mich und unseren ganz persönlichen Moment. Es ist eine positive Eigenschaft, die Marianne durch ihre Hörschädigung ausgeprägt hat. Um die andere Person gut zu verstehen, muss sie sich auf das Gespräch fokussieren und hört aktiv zu. Doch was im direkten Eins-zu-Eins Kontakt gut funktioniert, ist in der Gruppe keine leichte Aufgabe: Einer Unterhaltung zwischen mehreren Personen zu folgen, stellt für sie eine kaum überwindbare Herausforderung dar, die sie trotz der Implantate immer sehr viel Kraft kostet.

Eine Schwierigkeit, die im Alltag so manche Hürden mit sich bringt. Kindergarten, Grundschule, Realschule. Viele Jahre kämpfte sie sich durch das Regelschulsystem und gab sich große Mühe, mit ihren hörenden Klassenkamerad*innen mitzuhalten. Trotzdem kam Marianne in der 8. Klasse an einen Punkt, an dem es für sie nicht mehr weiterging: Sie war versetzungsgefährdet. Nach langem Überlegen entschied sie sich, auf ein Internat für Hörgeschädigte nach Stegen zu wechseln. „Des isch mir schu schwer g’falle“, sagt sie nachdenklich und scheint kurzzeitig in ihrer Erinnerung gefangen zu sein. In der neuen Schule hatte sie das Gefühl dazuzugehören und nicht mehr ständig die Außenseiterin in der Klasse zu sein, was ihr sehr gut getan hat. Im Internat konnte sie ihren Abschluss machen.
Mitten im Gespräch ist der Akku des Hörgeräts leer. Doch Marianne ist auf solche Notfälle vorbereitet und hat immer Ersatzakkus und -batterien in ihrer Tasche. Mit geübten Handgriffen nimmt sie das Hörgerät ab und wechselt den Akku. Es dauert nur einen kurzen Moment. Und doch wird deutlich, dass die Hörschädigung Marianne immer wieder einschränkt und sie spüren lässt, dass die Implantate nicht alle Defizite ausgleichen können, die sie gegenüber einem hörenden Menschen hat.

Verärgert ist sie vor allem über die bürokratischen Hürden, die ihr zum Teil den Zugang zu lebenswichtigen Hilfsmitteln erschweren. Geräte wie ein Lichtblitz-Wecker, der auch mit den Feuermeldern in der Wohnung verbunden werden können, wurden speziell für Hörgeschädigte entwickelt. Vollständig werden diese aber nicht von der Krankenkasse finanziert, sodass Marianne Zuzahlungen leisten muss. In der Summe fallen dadurch einige Kosten an, die sie alleine stemmen muss. Auch ein Grund, weshalb sie nicht alle Hilfsmittel besitzt, die ihr helfen würden, ein selbstbestimmteres Leben zu führen. Trotzdem will sie den Schritt wagen und im nächsten Jahr bei ihrer Mutter ausziehen. Eine eigene Wohnung im gleichen Dorf, das würde sie sich sehr wünschen.

Während Marianne ihre Geschichte erzählt, schaut sie mich ernst an und lächelt kaum. Mit ihren 25 Jahren hat sie schon Vieles erlebt und das Leben ist nicht spurlos an ihr vorbeigezogen. Ein persönlicher Schicksalsschlag vor drei Jahren beschäftigt Marianne noch immer. Die Traurigkeit ist spürbar, wird ab und zu von einem Lächeln oder einer schönen Erinnerung überstrahlt und scheint sie daran zu erinnern, dass es die einzelnen Augenblicke sind, die wir schätzen und genießen sollten. In dieser schwierigen Zeit war Loulou ein wichtiger Anker für sie. Durch einen glücklichen Zufall kam der Golden Retriever-Welpe in ihr Leben und eroberte ihr Herz schon beim allerersten Kennenlernen, als Marianne sich den Wurf Welpen anschauen wollte und Loulou direkt bei ihrer Ankunft freudig auf sie zugerannt kam. Ihre Augen glänzen, wenn sie von ihr spricht und als sie mir Fotos von Loulou zeigt, ist ihre Liebe zu dem Hund deutlich zu spüren.

Heute scheint sie ein Stück weit angekommen zu sein. Nach einer ersten Ausbildung als Altenpflegehelferin hat Marianne letztes Jahr ihre Chance ergriffen und eine Ausbildung als zahnmedizinische Fachangestellte begonnen. Keine leichte Entscheidung, wie sie mir mit ernster Miene erzählt und dabei den Prozess der Entscheidungsfindung mit ausladenden Handbewegungen untermalt. Die Hörschädigung stellt sie dabei immer wieder vor neue Herausforderungen. Trotzdem ist sie ein Teil von ihr, der dazu gehört. Und auch wenn sie ihre Chefin mit dem Lärm des Bohrers manchmal nicht versteht, fühlt sie sich zwischen Behandlungsstuhl und Wartezimmer gut in der Praxis aufgehoben und von den Kolleg*innen akzeptiert. Für alle war und ist die Zusammenarbeit immer wieder aufs Neue eine Herausforderung, auf die sich alle gemeinsam eingelassen haben. Aber Mariannes Message ist eindeutig: „Aufgebe war nie ä Option“.

Lea Spinner

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