Auf der Suche nach dem Land „ohne Übel“

Seit Hunderten von Jahren wird das indigene Volk der Guaraní verfolgt. Auch in Argentinien, wo die Guaraní-Kinder Steyler Schulen besuchen. Und wo die Steyler gleichzeitig alles dafür tun, damit das Volk seine Kultur behält. Ein Bericht aus „Leben jetzt“.

Sr. Ana setzt sich seit 30 Jahren für den Erhalt der Kultur der Indigenen ein.

Das „Land ohne Übel“ liegt weit weg im Osten, irgendwo hinter dem Atlantischen Ozean. Dort herrschen Frieden und Ruhe, es gibt Nahrung im Überfluss, immerwährende Freude und ein ewiges Leben. Ein Paradies. Seit jeher sind die Guaraní auf der Suche nach diesem mythischen Land.

Gefunden haben sie es bei ihren ausgedehnten Wanderungen noch nicht. Im Gegenteil. Heute hat das Volk kein eigenes Land mehr, und es ist ein Leben voller Übel, das es führen muss. Etwa 225.000 Guaraní leben in Südamerika: in Brasilien, Paraguay, Bolivien und Argentinien. Seit die Europäer im 16. Jahrhundert begannen, diese Länder zu besiedeln, wurden die Guaraní vertrieben, versklavt, ausgegrenzt und ermordet. Viele starben an Krankheiten, die die Weißen einschleppten. Geändert hat sich bis heute leider nicht viel. „Noch immer werden Guaraní diskriminiert“, sagt die Ethnologin Dr. Mona Suhrbier. „Sie sind abhängig vom Wohlwollen der Weißen, für die sie oft unsichtbar sind.“

Es grenzt an ein Wunder, wie dieses Volk es geschafft hat, dennoch seine Kultur zu bewahren, wenn auch oft im Verborgenen. Und wie die Menschen die Traumata, denen sie ausgesetzt waren und sind, in ihre Mythologie integriert haben, die für sie überlebenswichtig ist. Weitergetragen wird diese Mythologie in Liedern, gesungen in der eigenen Sprache.

„Wort und Seele sind identische Begriffe auf Guaraní“, sagt Dr. Suhrbier, stellvertretende Direktorin des Museums der Weltkulturen in Frankfurt. „Beim Sprechen offenbart sie sich.“ Nur wer die Dichtkunst beherrscht, ist fähig, ein Mensch zu sein – davon sind die Guaraní überzeugt. Die Gemeinschaft motiviert schon die Jüngsten, selbst Gesänge zu verfassen. Und damit zu Menschen zu reifen.

„In Gebetshäusern, die versteckt abseits des Dorfes liegen, singen und tanzen die Erwachsenen unter Anleitung des religiösen Führers, des Pai, oft stundenlang. Und versuchen gemeinschaftlich, auf diesem rituellen Weg das Land ohne Übel zu erreichen.“

Die Guaraní singen über die mythischen Wesen in der Natur, über die Entstehung und den Aufbau der Welt, den Sinn des Lebens. Der Gott Ñanderu, so die Ethnologin, habe wandernd und singend die Welterschaffen und die Guaraní auf die Erde geschickt, um auf sie aufzupassen. Das tun sie, indem sie singen und tanzen. „Wenn sie damit aufhörten, wäre sie verloren.“

Zerstört ist ihre Welt schon jetzt. Vor allem fehlen den Guaraní die Wälder, die sie als Lebensraum brauchen. Auch in Misiones, im Nordosten Argentiniens, wo sich die Steyler Schwestern für die Guaraní vom Stamm der Mbya einsetzen. Die Bäume mussten dort Platz machen für Monokulturen: den Anbau von Tee, die Yerbapflanze, aus der das Nationalgetränk Mate gemacht wird, Tabak und sogar Nadelbäume. Was für Außenstehende wie Urwald aussieht, ist es oft nicht mehr. Der Wald, von dem die Guaraní sich ernährten, ist ausgeblutet. Tiere zum Jagen gibt es in Misiones kaum noch.

Die Guaraní betreiben Landwirtschaft, bauen Maniok, Süßkartoffeln, Mais und Früchte an. Gelegentlich helfen sie Bauern bei der Tee- oder Yerba-Ernte. Etwas Geld verdienen sie sich auch mit ihren handwerklichen Arbeiten, den mit großem künstlerischem Geschick geflochtenen Körben oder geschnitzten Holzfiguren, die sie Touristen anbieten.

Weil sie im Einklang mit der Natur leben, nehmen sich die Indigenen von ihr nur, was sie auch wirklich brauchen. Und wenn sie Tiere töten müssen, erklären sie die Notwendigkeit vorher in einem Ritus. Über das Nötige hinausgehender Besitz sei ihnen fremd, so Suhrbier. Den bräuchten sie auch nicht, weil sie immer bereit sein wollen weiterzuwandern.

„Die Worte, die Gesänge sind ihr Besitz. Die Guaraní erscheinen äußerlich arm, aber innerlich sind sie sehr reich.“ Diesen inneren Reichtum zu bewahren – dabei unterstützen Steyler Schwestern die Guaraní. Sie engagieren sich für den Erhalt ihrer Kultur, für ein eigenständiges Leben in Würde. „Die Guaraní sind in jeder Hinsicht benachteiligt“, sagt Schwester Ana Gertrudis Benitez SSpS, die seit über 30 Jahren in Misiones lebt. „Der Grund, auf dem sie leben, gehört dem Staat oder Unternehmen. Manche Dörfer haben weder Wasser noch Strom.“

Sie bewundert die Kultur der Indigenen. „Die Guaraní sind die friedfertigsten Menschen, die ich kenne“, sagt die 65-Jährige. Glücklich zu sein, ein schönes Leben zu führen – immer ausgerichtet auf die Gemeinschaft –, das sei ihnen besonders wichtig. „Konflikte vermeiden sie, indem sie das Dorf verlassen und weiterziehen.“

Vor 30 Jahren begann Pater Josef Marx SVD mit der Bildungsarbeit für die Guaraní, gründete die ersten Grundschulen. Seit seinem Tod führt Schwester Ana die Arbeit weiter. Inzwischen leitet sie zehn Grundschulen und eine weiterführende Schule, mit denen sie einen Spagat versucht: den Guaraní ein besseres Leben zu ermöglichen, ihnen die Chance der Teilhabe an der argentinischen Gesellschaft zu geben. Und dafür zu sorgen, dass dabei ihre jahrtausendealte Kultur überlebt.

Die Schule „Padre José Marx“ liegt im Dorf Guaporaity, benannt nach einem Früchte tragenden Baum, weit abseits der Asphaltstraßen. Etliche Kilometer geht es über unbefestigte Wege aus roter Erde, die links und rechts von subtropischem Wald gesäumt werden, bis man auf die Siedlung trifft. 27 Familien leben hier in Hütten aus Holz oder Lehm, die auf gerodeten Flächen errichtet wurden. Das einzige Gebäude aus Stein ist die Schule. Hier werden mehrere Jahrgänge in einem Raum unterrichtet. Wie alle von Schwester Ana geleiteten Grundschulen ist sie zweisprachig (hier lernen die Kinder Spanisch) und interkulturell.

An jeder Schule arbeitet auch eine Lehrkraft, die zum Volk der Guaraní gehört. Sie hilft beim Übersetzen der Muttersprache – und bei ganz praktischen Dingen. „Unser Lehrer bringt uns bei, wie man eine Hütte baut und Fallen stellt“, erzählt der zehnjährige Elias und strahlt. Wie alle Guaraní trägt der Junge einen spanischen Vornamen, hat aber noch einen zweiten, geheimen „Seelennamen“, der mit der Seele auf die Welt kommt. „Wir lernen auch, wie man Körbe flicht und Pfeil und Bogen herstellt“, fügt Alex, 12, hinzu. „Und der Lehrer zeigt uns, wie man auf die Jagd geht.“

Das tun meist auch die eigenen Eltern, aber durch die Schule verfestigt sich das Wissen. „Alles, was uns unsere Großväter gelehrt haben, könnte sonst verloren gehen“, sagt Juan Monillio, der Guaraní- Lehrer. In der Schule singt und tanzt er mit den Kindern zu alten Liedern. Dabei benutzen sie auch die traditionellen Instrumente: den „Takuapu“, ein langes Rohr aus Bambus, das rhythmisch auf den Boden gestampft wird. Die „Ravé“, eine Geige mit vier Saiten aus Angelschnur. Und die „Mba’epu“, eine Art Gitarre.

„Die Kinder kommen mit Freude zum Unterricht“, sagt Schwester Ana stolz. „Etwa vier oder fünf aus jeder Klasse gehen später auf die weiterführende Schule.“ Auch die landwirtschaftlichen Oberschulen, die ebenfalls von Steylern geleitet werden, stehen ihnen offen. Viele der Kinder werden später Hilfslehrer oder sie machen eine Ausbildung zu einer Art Krankenpfleger. „Einige haben es auf die Universität geschafft, einer ist Arzt geworden“, sagt Schwester Ana. „Nach dem Studium kommen sie zurück, um für ihre Gemeinschaft da zu sein.“

Alex will Lehrer werden. Oder Polizist. Und Elias träumt den Traum aller Guaraní: „Ich möchte glücklich sein.“ So wie im Land ohne Übel.

Text: Ulla Arens, Redakteurin von Leben jetzt
Fotos: Steyler Missionare

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Traditionelle geflochtene Körbe
Eine der Schulen, die zu Ehren von Pater Josef gegründet worden ist