Ein historisches Fundstück

Manche Dinge brauchen einen zweiten Blick, um zu erkennen, welchen Schatz man dort in den Händen hält. So geschehen bei Wilma und Koos Ewals: Das Ehepaar glaubte, eine gewöhnliche alte Blechdose im Herz-Jesu-Kloster gefunden zu haben. Bis sie genauer hinschauten.

Karolien Stocking Korzen (Mitte) vom Anne-Frank-Haus nahm das Fundstück von Koos Ewals und Sr. Ilse Beckmann entgegen.

Aufräumen kann zu einem echten Abenteuer werden – besonders, wenn man sich die Speicher, Nebengebäude und Lagerflächen des Herz-Jesu-Klosters in Steyl vorgenommen hat. Im fast 120 Jahre alten Gebäude gibt es unendlich viel zu entdecken – Geschichtsträchtiges, Kuriositäten und echte Schätze – alles dabei. Wer diese Aufgabe angeht, darf sich nicht verzetteln. Für jedes Fundstück muss zügig entschieden werden: Hat es historischen Wert, ist es wiederverwertbar und bleibt im Haus? Kann es in neue gute Hände gegeben werden, oder kann es weg?

Wir sind glücklich, dass wir mit Wilma und Koos Ewals ein fachkundiges und engagiertes Ehepaar gefunden haben, das uns beim Aufräumen und bei den Entscheidungen zu weiteren Verwendungen mit Sachverstand unterstützt und gelegentlich auch Flohmärkte in unserem Josefshaus organisiert und durchführt. Die beiden haben schon so vieles geborgen, entstaubt und geschätzt, dass man sie mit gutem Recht als Routiniers und Kenner ihres Fachs bezeichnen kann. Und echte Routiniers spüren, wenn sich ein zweiter Blick und eine Extraportion Aufmerksamkeit lohnen.

Dieses Gespür wurde vor wenigen Wochen bei Koos Ewals aktiviert, als ihm eine alte, von zahlreichen Gebrauchsspuren gezeichnete Blechdose in die Hände fiel. Zwischen Lack- und Farbenbüchsen stand sie, verstaubt und von Spinnen kunstvoll umwoben. Der niederländische Schriftzug verriet den mäßig interessant klingenden ursprünglichen Inhalt: "Leverworstkruiden" (Leberwurstgewürz). Auf den ersten Blick kein sonderlich attraktiver Fund, aber Koos Ewals blieb an der Firmenadresse hängen: Gies & Co., Prinsengracht 263 in Amsterdam.

Gies, Prinsengracht, Amsterdam – die Kombination dieser drei Worte weckten seine ganze Aufmerksamkeit und führten ihn direkt zur Recherche ins Internet. Nach wenigen Klicks entpuppte sich die wenig attraktive Blechdose zum prickelnden Fund. Prinsengracht 263 – das ist heute die Adresse des Anne-Frank-Hauses in Amsterdam. Hier im Hinterhaus hatten sich Anne mit ihrer Familie wie auch die Familie van Pels sowie Fritz Pfeffer von Juli 1942 bis zu ihrer Entdeckung am 04. August 1944 versteckt. Otto Franks Sekretärin Miep Gies und ihr Mann Jan sowie eine kleine Hand Eingeweihter übernahmen über die gesamte Zeit die gefährliche Versorgung aller Versteckten.

1938 hatte Annes Vater im Vorderhaus der Prinsengracht 263 die Firma Pectacon für den Vertrieb von Gewürzen und Kräutern gegründet. Um zu verhindern, dass Pectacon als jüdisches Unternehmen infolge der deutschen Besatzung beschlagnahmt wurde, gründete Jan Gies 1940 zusammen mit Victor Kugler die Firma Gies & Co. als Nachfolgebetrieb von Pectacon. Jan wurde formal Geschäftsführer. So blieb Otto Franks Firma davor bewahrt, in die Hände der Besatzungsmacht zu fallen.

Welch Informationen! Von jetzt auf gleich schlug die unspektakuläre Blechdose einen Bogen hin in die Zeit des Nationalsozialismus und konkret an genau den Ort, an dem Anne Frank sich so lange versteckt halten musste, ihr Tagebuch schrieb und aller Hoffnung zum Trotz am Ende doch entdeckt und verhaftet wurde.

Was tun mit einem solch besonderen Zeugnis seiner Zeit? – Koos Ewals nahm Kontakt mit der Anne-Frank-Stiftung auf und schilderte seinen Fund. Schnell wurde klar, in der Sammlung des Anne-Frank-Hauses gibt es aktuell noch kein vergleichbares Exponat. Dies wird sich möglicherweise bald ändern, denn die Gewürzdose wurde vor einigen Tagen von einer Vertreterin des Museums, Karolien Stocking Korzen, abgeholt und reiste zurück an die Prinsengracht. Nirgends wäre sie besser aufgehoben als dort.

Wir danken Wilma und Koos Ewals für ihre Unterstützung, ihre Aufmerksamkeit, ihren genauen Blick und die Fähigkeit, das Besondere im Unspektakulären wahrzunehmen, und wir freuen uns, dass wir die Möglichkeit hatten, dem Anne-Frank-Haus, das Jahr für Jahr vielen tausend Besuchenden die unfassbaren Verbrechen des Nationalsozialismus eingängig nahebringt und sie so im Bewusstsein hält, ein kleines Stück Zeitgeschichte übergeben konnten.