„Einer geht immer mit“

Mehr als fünf Jahrzehnte wirkte Sr. Mary Linda Krems in Papua-Neuguinea. Oft war sie auf sich selbst angewiesen. Warum sie sich trotzdem nie allein fühlte, das hat sie der Leben jetzt Autorin Xenia Frenkel erzählt.

Es ist schwül, sehr schwül und sehr, sehr grün. „Eines der letzten echten Wildnisgebiete“, schwärmt ein alternatives Reiseportal für moderne Abenteurer von Papua-Neuguinea. Doch die junge Frau, die 1967 im Nordwesten der zweit- größten Insel der Erde ankommt, ist keine gut ausgestattete Rucksacktouristin. Sie trägt Habit und dicke Strümpfe, im Gepäck hat sie nur das Allernötigste. Dafür besitzt sie jede Menge Tatkraft und Mut. Letzteres braucht es. Papua-Neuguinea ist in weiten Teilen nahezu unerforschtes Gebiet, noch bis in die 1980er-Jahre werden große Teile des Landes auf Karten als „weiße Flecke“ bezeichnet.

Da ist sie nun, die Ursel aus Breslau, die jetzt Mary Linda heißt. Es ist der Ort, von dem sie schon lange träumt. Über fünf Jahrzehnte wird sie bleiben, Schulen aufbauen, unterrichten, Kranke pflegen, Gemüse anbauen, Flüsse und unwegsames Gelände durchqueren, in denen gefährliche Schlangen lauern, darunter die weltweit giftigste, der sogenannte Inlandtaipan. Ihr erstes Arbeitsfeld ist die Küstenstation Dagua, wo die Steyler Schwestern bereits eine Missionsklinik und Volksschule leiten. Jeden Morgen ruft eine Garamut-Trommel die Kinder von den umliegenden Dörfern zusammen. Auch vom Arapesh-Stamm, der etwas höher in den Bergen siedelt. Doch an regnerischen Tagen fehlen viele Arapesh-Schüler. Reißende Flüsse erlauben oft kein Durchkommen, besonders für die Kleineren. Aber Bischof Leo Arkfeld, ein amerikanischer Steyler Missionar und Pilot, genannt „The Flying Bishop“, „der fliegende Bischof“, will ohnehin schon seit Längerem eine Volksschule auf der abgelegenen Außenstation Wogenara aufbauen. Dorthin geht’s nur zu Fuß oder auf Pferderücken durch Flüsse und ansteigendes Dschungelgebiet.

Ihr neues Zuhause ist ein Buschhaus auf Pfählen ohne Wasser und Strom. Sofort macht sie sich an den Aufbau der Schule. Unterstützt von zwei Junglehrern geht es zügig voran, sodass ihre kleine „Buschschule“ rechtzeitig vor der Unabhängigkeit Neuguineas die staatliche Anerkennung von der australischen Erziehungsbehörde erhält.

„Woher hast du den Mut genommen, dich so ganz allein auf diesen Weg zu machen?“, frage ich Mary Linda. Sie lacht. „Allein sind wir nie, Einer geht immer mit.“ Mary Linda hat ein Wesen, das sich am treffendsten als sonnig beschreiben lässt. Dabei hat sie in ihrem Leben einiges mitgemacht. Schon bevor sie nach Papua-Neuguinea gekommen ist.

Im Januar 1945 gelingt ihrer Mutter mit drei kleinen Kindern die Flucht aus Breslau mit dem allerletzten Transport. Der Verlust der geliebten schlesischen Heimat wiegt schwer, doch schließlich findet die Familie in Hildesheim ein neues Zuhause. Mary Linda besucht die Marienschule der Ursulinen, wo ihr erstmals die ‚Stadtgottes‘ der Steyler Missionare in die Hände fällt. Sie ist sofort fasziniert von den Berichten der fernen Missionsstationen. Die politisch interessierte Heranwachsende beschäftigt sich auch mit dem Krieg auf Neuguinea. Während des Vormarschs der Japaner haben hier 100 Mitglieder des Steyler Ordens ihr Leben verloren, darunter 57 junge Schwestern. Die einst blühende Mission liegt in Schutt und Asche.

Mary Linda fasst einen Entschluss: Ich werde Missionsschwester und helfe beim Wiederaufbau. Sie besucht das Gymnasium der Steyler, tritt in den Orden ein, legt nach dem Abitur die ersten Gelübde ab und reist noch im selben Jahr nach Chicago. Dort absolviert sie in Rekordzeit ein Lehramtsstudium und hofft, dass es bald nach Neuguinea geht. Doch erst mal wird sie für drei Jahre nach Mississippi und Arkansas geschickt, wo sie an den von Steylern geleiteten Schulen für Farbige unterrichtet. Im Süden herrscht immer noch Rassentrennung, dennoch lotst die frischgebackene Lehrerin ihre Schüler erfolgreich in Richtung Highschool-Abschluss.

Dann endlich, im Sommer 1967, legt Mary Linda die ewigen Gelübde ab. Und bricht auf nach Papua-Neuguinea. Jeden Morgen macht sich Mary Linda hier neu auf den Weg. Erst zum Gebet in die Busch-Kapelle „Our Lady of Fatima“, dann zu ihren 150 Schulkindern, ein Fußmarsch von eineinhalb Stunden. Sie unterrichtet in einem provisorischen Klassenraum, bis dieser eines Tages von einem kräftigen Regenguss weggeschwemmt wird. Kurzerhand organisiert sie 100 junge Soldaten, die im Rahmen des Civil Acts der Zivilbevölkerung beim Bau von Straßen, Brücken und auch von Schulen helfen sollen. „Als sie auf dem ansteigenden Dschungelpfad anrückten, hatten unsere Leute alles Baumaterial schon an Ort und Stelle heraufgeschleppt“, erzählt Mary Linda stolz. In nur einer Woche entsteht ein stabiles Doppelklassenzimmer, das auch als Bücherei, Schlafgelegenheit für Besucher und als Versammlungsraum für die Dorfgemeinschaft genutzt wird.

Neben der Missionstätigkeit liegt Mary Linda auch der Kontakt zu den Mitschwestern in Daruga sehr am Herzen. Um die Sonntagsmesse mit ihnen zu feiern, macht sie sich jeden Samstagmorgen auf den Weg, reitet, ja, das kann sie auch, durch wildes Dschungelgelände und zerklüftete Berghänge und kommt stets sicher ans Ziel. Obwohl sie überhaupt keinen Orientierungssinn hat, wie sie behauptet. Dafür besitzt sie grenzenloses Gottvertrauen.

Sechs Jahre lebt Mary Linda auf ihrer Buschstation, baut eine Volksschule bis zur sechsten Klasse auf, unterrichtet und bereitet „ihre“ Kinder auf Taufe und Kommunion vor. Unterstützt wird sie von Bischof Leo Arkfeld, der regelmäßig vorbeischaut. „Dann liefen alle zusammen“, erinnert sich Mary Linda. „Schon auf dem Fußweg von dem kleinen Flugfeld, wo er mit seiner kleinen Cessna landete, zu meinem Buschhaus mit der angrenzenden Kirche spendete er Kranken und Gehbehinderten das Sakrament der Hl. Firmung. Viel Gepäck hatte er nicht dabei, dafür einen kleinen Generator.“ Zur Freude der Arapesh gibt es unterm nächtlichen Sternenhimmel einen Cowboy-Film zu sehen.

1973 reist sie für ein Mathematikstudium noch einmal in die USA. Knapp ein Jahr später ist sie schon wieder zurück und unterrichtet diesmal an verschiedenen Missions- und Regierungsoberschulen in Goroka, einer schnell wachsenden Stadt auf 2000 Metern Höhe. Auch im Kleinen Priesterseminar an der Nordküste erteilt sie Mathematikunterricht. Zeitweise arbeitet sie überdies parallel in der Verwaltung des Ordens. Ein Pensum für drei, doch nicht für Mary Linda. Als sie auf den Straßen von Goroka die vielen herumstreunenden Jugendlichen sieht, weiß sie sofort, was zu tun ist: eine Klasse für Heranwachsende, die aus dem Schulsystem „herausgedrängt wurden“, wie sie sagt. Sie rettet viele vor dem Absturz.

Es sind unruhige Zeiten in Papua-Neuguinea. Gewalttätige Auseinandersetzungen sind an der Tagesordnung, HIV-Infektionen und Drogensucht nehmen zu, die Armut wächst, wozu nicht zuletzt die Korruption beiträgt. Wenn Mary Linda auf einer Veranstaltung den Premierminister trifft, erinnert sie ihn schon mal an seinen Auftrag. Er ist einer ihrer ehemaligen Schüler, „in meiner Mathematikklasse war er einer der Besten“, sagt sie. Einen Moment sieht sie ungewöhnlich ernst aus, dann sprudelt es wieder fröhlich aus ihr heraus. Die Sache mit der Hundezucht! Durch einen Zufall hatte sie erfahren, dass vermögende Geschäftsleute zur Bewachung ihrer Häuser und Läden Wachhunde suchten. Und weil es ständig an allen Ecken und Enden an Geld für Hefte, Stifte und Bücher fehlte, züchtete sie nebenbei eben auch noch Hunde.

Seit Mai letzten Jahres ist Mary ­Linda zurück in Steyl. „Ein guter Ort für uns Schwestern“, sagt sie, aber Sehnsucht hat sie doch nach dieser fernen, geheimnisvollen Insel, die ihr so lang Heimat war. „Eine Ära ist zu Ende, was ich erlebt habe, das gibt es so nicht mehr. Heute wird niemand einfach so in ein fremdes Land auf Mission geschickt.“ Sie macht eine kleine Pause. Und dann sagt sie strahlend: „Es war einfach wunderbar.“

Danke, liebe Schwester Mary Linda, danke, liebe Freundin, für alles, was du den Menschen geschenkt hast!

Der Artikel ist aus der Märzausgabe von Leben jetzt, dem Magazin der Steyler Missionare.

 

Der fliegende Bischof Leo Arkfeld SVD neben Sr. Mary Linda
Mit dem Pferd war Sr. Mary Linda über unwegsames Gelände unterwegs
Sr. Mary Linda hat immer auch selbst angepackt, hier beim Baumaterial für die neue Schule