„Gut, dass Gott nicht auf bessere Zeiten wartet“

Sr. Michaela Leifgen schaut staunend auf die Filipinos: Berührt davon, wie die Menschen auch die schwersten Schicksalsschläge annehmen, schickt sie Grüße aus Manila.

Auf meinen letzten Rundbrief im September über die Corona-Lage hier auf den Philippinen habe ich unglaublich viele Reaktionen bekommen. Tatsächlich sind so viele Brücken entstanden, die nicht nur euch die Philippinen, sondern auch mir Deutschland nähergebracht haben. Danke für die persönlichen Email-Begegnungen, die sich dadurch ergeben haben, und für die vielen Zeichen der Solidarität!

Seit September hat sich bei uns wenig geändert. Hier in Metro-Manila sind wir immer noch in „General Community Quarantine“. Seit mehr als neun Monaten bleiben wir nun also schon Zuhause und verlassen dasselbe nur für „Wesentliches“. Über einen Impfstoff wird diskutiert, doch verfügbar wird er, so der aktuelle Stand, wohl erst Mitte nächsten Jahres sein.

Dieses Jahr hat es für uns alle in sich gehabt. Wenn ich auf 2020 zurückblicke, dann kommen mir im Kontext der Philippinen vor allem drei Ereignisse in den Sinn, die mir sehr deutlich gemacht haben, dass das Leben und die Kräfte der Natur uns Menschen, unsere Pläne und Vorstellungen weit übersteigen. Das erste Ereignis war Mitte Januar der Ausbruch von Vulkan Taal, ca. 60 Kilometer Luftlinie von Manila entfernt. Dann kam Corona, mit Start des Lockdowns im März. Im November schließlich fegten binnen drei Wochen fünf Taifune durch das Land. Der letzte davon mit Namen Ulysses (international als Goni bekannt) besuchte auch uns in Manila und zog heftige Überschwemmungen nach sich.

Unvergessen bleibt für mich: Drei Wochen nach Ulysses gingen eine Mitschwester und ich mit einer ökumenischen Gruppe in eines der Viertel, das besonders heftig betroffen war. In der Nacht des Taifuns hatten die Menschen hier Zuflucht auf ihren Hausdächern gesucht, so hoch stieg das Wasser. Auch drei Wochen später waren die Menschen immer noch damit beschäftigt, ihre Häuser von dem Schlamm zu befreien, der sich gnadenlos durch ihr gesamtes Hab und Gut gebahnt hatte. An den Straßenrändern waren ganze Schlammhügel zusammengeschippt – die mitgerissenen Kleidungsstücke und Haushaltsgeräte noch in sich bergend. Wir brachten unter anderem Reis, Milchpulver, Konserven für 1.200 Familien. Und doch blieb die Frage: Was ist das schon?

Ganz ehrlich, manchmal frage ich mich: Was denn noch? Und dann schaue ich mich um und staune, wie das Leben sich durchbricht wie der Löwenzahn im Kopfsteinpflaster. Mir kommt vor, dass den Filipinos dabei vor allem drei Dinge zur Hilfe kommen: ihr Glaube, ihre Dankbarkeit und ihre entschiedene Freude.

Stichwort Glaube: Im nächsten Jahr gedenken die Philippinen in einer 500-Jahrfeier der Ankunft der ersten Christen (aus Spanien). Im Vergleich zu Europa ist das Christentum hier also noch recht jung. Ob es vielleicht auch deshalb noch so relevant für viele Menschen ist? Es lässt mich auch nach fast zwei Jahren immer noch staunen, wie oft die Menschen bei allen möglichen offiziellen Anlässen wie privaten Begegnungen über ihren Glauben reden, ihr Gebet versprechen, einander den Segen zusagen.

Stichwort Dankbarkeit: Die philippinische Kultur ist in meinen Augen absolut eine Kultur der Dankbarkeit. Immer und überall wird Danke gesagt. Und niemand wird dabei vergessen. Jeder Beitrag zählt. Dazu gehört auch, dass das, was andere tun, immer sehr viel Wertschätzung und Anerkennung erhält. Darüber hinaus wird außerdem Gott sehr oft Danke gesagt. Ja, im Deutschen haben wir das auch – „Gott sei Dank“ –, hier ist es mehr an Gott selbst gerichtet: „Thank you, Lord.“ Unter die Haut ging mir das vor Kurzem als die Worte von einer Mutter kamen, deren Sohn dem Taifun zum Opfer gefallen war. Sie dankte Gott dafür, dass sein Körper geborgen werden konnte und sie damit die Möglichkeit hatte, Abschied zu nehmen.

Stichwort entschiedene Freude: Die Filipinos sind dafür bekannt, dass sie immer lächeln. Okay, vielleicht nicht immer, aber tatsächlich sehr viel. Aus westlicher Sicht und in unserer direkten Art neigen wir manchmal dazu zu denken, das Lächeln könne schwerlich immer echt sein und verberge eventuell die „eigentlichen“ Gefühle. Meine Erfahrung ist: Auch, wenn ein lächelnder Mensch nicht immer „glücklich“ ist, und auch darum weiß, so kann sie/er doch wählen zu lächeln – trotzdem. Weil Jammern nichts bringt oder sich mit einem lächelnden Menschen leichter leben lässt, oder weil tief drinnen ein Grundvertrauen bleibt, dass das Leben weitergeht und es noch viele Gründe geben wird „Thank you, Lord“ zu sagen.

Und so gingen wir also auf Weihnachten zu. Normalerweise verstehen wir den Advent als eine Zeit des Wartens unsererseits. Mir kam in den letzten Wochen zugleich immer wieder der Gedanke, Gott darum zu bitten zu warten. Nach dem Motto: Wir sind noch nicht so weit für Weihnachten, Gott. Die Menschen sind noch dabei, ihre Häuser vom Schlamm des letzten Taifuns zu befreien. Und wegen Corona können wir im Moment nicht zusammenkommen und gemeinsam feiern… Und vielleicht dachte Maria ähnlich, als sie mit Jesus in den Wehen lag und kein angemessener Ort für eine Geburt zu finden war: Warte noch ein bisschen.

Aber Er kam doch. Und kommt doch, auch dieses Jahr. Das ist in diesem Jahr für mich das stärkste an Weihnachten: Gott kommt. Will kommen. Auch, wenn wir noch nicht alles fertig haben und selbst noch nicht fertig sind. Es hängt nicht von uns ab. Gott sei Dank, dass Er nicht auf bessere Zeiten wartet. Thank you, Lord!

Inmitten allem was (noch) nicht ist und sein kann, lassen wir uns überraschen von dem, der kommt in das, was ist!

Sr. Michaela Leifgen