MaZ: Die Philippinen verstehen lernen

„Schon fast neun Monate auf den Philippinen. Nur noch drei Monate auf den Philippinen.“ In dieser Gefühlslage befindet sich Carmen gerade, die als Missionarin auf Zeit in Cebu ist. Auf ihre bisherigen Meilensteine in dieser Zeit blickt sie im Rundbrief zurück.

Eine Sinulog-Tänzerin zeigt Carmen (l.) und ihrer Mitfreiwilligen Amarins die traditionellen Tänze

Vor etwa acht Monaten habe ich meine Arbeit in Balay Samaritano begonnen (davor hatten wir etwa zwei Wochen Einlebezeit und Sprachkurs bei den Steyler Schwestern hier in Cebu).  Seitdem hat sich die tägliche Routine hier eigentlich kaum verändert. Der Tag beginnt um 5:30 Uhr, sodass ich pünktlich um 6 Uhr bei der Morgenmesse der Steyler Missionare bin. Danach folgt das Frühstück und um 9 Uhr beginnt meine Arbeit in Balay Samaritano.

Und nach neun Monaten kann ich mit Bestimmtheit sagen, dass Balay Samaritano für mich der liebste Ort in ganz Cebu ist. Vielleicht auf den ganzen Philippinen. Obwohl das Land paradiesische Strände und eine wundervolle, exotische Flora und Fauna hat. So hat mich doch kein Ort so glücklich gemacht, wie die Arbeit mit den Kindern in Balay Samaritano. „Durch den Umgang mit Kindern gesundet die Seele“, hatte Fyodor Dostoyevski einst gesagt.

Natürlich gibt es auch anstrengende Tage. Physisch, weil es so viel zu tun gibt, aber auch emotional. Denn Balay Samaritano ist auch ein Sammelort, für herzergreifende und herzzerreißende Geschichten und Schicksale von Menschen, die oftmals keinen Platz im System gefunden haben. Es gibt Tage, da fällt es mir schwer zu glauben, dass dieses Kind, das ich gerade lachend spielen sehe doch schon in so jungem Alter so eine Last zu tragen hat. Aber die Ungerechtigkeiten, denen wir begegnen, können den Funken in uns entzünden, der uns dazu bewegt, uns für die einzusetzen, deren Stimmen nicht gehört werden und deren Geschichten nicht gerne erzählt werden. Manchmal nicht im Großen, sondern in Kleinigkeiten in unserem Alltag.

Obwohl mein Alltag hier im Übrigen doch ziemlich strukturiert ist, ist doch kein Tag wie der andere. Ich erinnere mich zum Beispiel noch an den ersten Tag in unserer Arbeitsstelle. Als ich zum ersten Mal die grünen Tore von Balay Samaritano öffnete und mich dahinter keine Gruppe Kinder erwartete, die es mit Aktionen und Aktivitäten zu beschäftigen galt, wie es uns zuvor beschrieben worden war. Stattdessen fanden wir drei Kleinkinder vor, die auch noch für den Großteil der Aktivitäten, die wir uns im Voraus überlegt hatten zu jung waren. Es galt also umzudenken. Flexibilität wurde zu unserer neuen wichtigsten Eigenschaft.

Denn Balay Samaritano ist ein Shelter für Kinder und Senior*innen, welches täglich von 9 bis ca. 16 Uhr seine Tore öffnete, für alle, die kommen wollten. Und bis heute wissen wir nicht, welche Kinder kommen und wie viele uns am nächsten Morgen erwarten würden. Und manchmal gibt es immer noch Tage, da komme ich ins Balay Samaritano und es ist kein einziges Kind vor Ort.

Das finde ich besonders schade, denn einer meiner liebsten Momente ist es, die grünen Tore zu öffnen und Kinderlachen zu hören, gefolgt von den fröhlichen Begrüßungen und Vorschlägen, was wir heute tun könnten.  Manchmal erzählen die älteren Kinder davon, wie Balay Samaritano vor der Pandemie gewesen war.  Man möchte fast meinen, dass sie von einem anderen Ort reden, wenn sie von 70 Kindern und Jugendlichen reden, welche täglich für Aktivitäten und zwei warme Malzeiten gekommen sind.

Wir haben mittlerweile etwa 20 Kinder täglich, was wir zu Beginn auch nicht gedacht haben. Aber es musste sich ja auch erst herumsprechen, dass es zum ersten Mal seit der Pandemie wieder Aktivitäten gezielt für Kinder gibt. Ein Angebot, das leider zuvor aus Mangel an Spenden und Freiwilligen erst einmal eingeschlafen war. Aber die Kinder in Balay Samaritano hauchen meiner Arbeit, an der ich am ersten Tag durchaus gezweifelt habe, so viel Leben ein, dass ich mir sicher bin, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis Balay Samaritano wieder überlaufen ist mit spielenden, lachenden, tobenden Kindern.

Schon neun Monate. Nur noch drei Monate. Die Zahlen wirken fast schon fremd, wenn ich sie lese. Geradezu unreal. Denn sie sagen, dass mein Aufenthalt auf den Philippinen bald vorbei ist. Tatsächlich habe ich die größten „Meilensteine“, die ich mir in meinen Gedanken für dieses Jahr gesetzt hatte, bereits hinter mir gelassen.

Zum Beispiel die Weihnachtszeit, die hier ja bereits im September begann und doch mit den Novene-Messen zum Sonnenaufgang, und der Rundumbeschallung von Weihnachtsliedern mit wilden Beats etwas anders war als ich es kannte. Oder etwas ganz Besonderes: Sinulog.  Eines der größten Straßenfestivals auf den Philippinen, das am dritten Sonntag im Januar gefeiert wird. Gefeiert wird das Ankommen des Christentums auf den Philippinen. Eine Feier, deren Ausmaß ich zunächst ehrlich gesagt nicht ganz verstand. Ging nicht die Ankunft des Christentums Hand in Hand mit einer der prägendsten Kolonialisierungen des Landes?! Mir war bewusst, dass das natürlich mit meinem westlich-geprägten Weltbild zusammenhing, aber ich kannte die Kultur auf den Philippinen viel zu wenig, um zu verstehen, wie das denn zu vereinbaren war. Aber einer der Priester hier erklärte mir das Ganze auf eine sehr schöne Weise, die ich versuchen möchte, hier wiederzugeben.

„Bevor die Spanier mit Magellan die Philippinen erreichten, waren die Philippinen bereits viele Male von verschiedenen Ländern, Reichen, Philosophien und Religionen erobert worden. Die meisten davon kamen vom asiatischen Kontinent.“ Soweit konnte ich sehr gut folgen. Bevor ich auf die Philippinen gekommen war, hatte es für mich zur Vorbereitung dazugehört, mich auch ein wenig mit der Geschichte des Landes auseinanderzusetzen. Noch verstand ich den Zusammenhang mit Sinulog und meinem Verständnisproblemchen aber nicht.

„So hatte mit der Eroberung durch die Chinesen auch die Philosophie von Ying und Yang ihren Weg in das Land gefunden. Ying und Yang. Zwei Gegensätze, die aber zusammengehören. Und so ist es ein bisschen auch mit Sinulog. Ja, es waren die Spanier, die das Christentum auf die Philippinen brachten, was heute für die Menschen immens wichtig ist, aber sie waren es auch, die die Menschen hier brutal unterdrückten, was bis heute Verletzungen und Schaden verursacht hat.  Aber man muss das eine, nach der Philosophie hier nicht als schlecht erklären, nur weil es das andere ist. 

Es ist einfach eine andere Mentalität hier. Eine, die man im Westen vermutlich nicht gewöhnt ist. Eine, die, wenn man sie nicht kennt, einen bestimmt auch irritieren kann. Aber so wie es für jemanden aus dem Westen, aus dem globalen Norden, dein Gedankengang ganz normal ist, so ist es hier eben andersherum und vermutlich würden die Menschen eben denken, dass beide Dinge eben koexistieren können, ohne dass man beides verteufeln oder in den Himmel loben muss. Aber jetzt siehst du, woran interkulturelle Kommunikation oft scheitert.“

Und ich verstand es nun sehr gut. Manchmal sind es solche Kleinigkeiten, die wichtig sind, um die Welt in einem anderen Land und die Menschen etwas besser zu verstehen. Nach diesem Gespräch fühlte ich mich jedenfalls frei, fröhlich mit den Einheimischen zu feiern, zu lachen und zu tanzen. Alle Straßen waren gefüllt mit Tänzer*innen, Umzügen, Musik und vielen bunten Farben. Ein Bild, das ich hoffentlich nie vergessen werde.

Kurz nach Sinulog war der nächste Meilenstein: das Zwischenseminar mit ca. 30 weiteren Freiwilligen, die alle mit unterschiedlichen Organisationen auf den Philippinen arbeiten. Das Seminar rief uns allen ins Gedächtnis, dass bereits die erste Hälfte unseres Aufenthaltes vorbei war und wir blickten gemeinsam auf diese Zeit zurück, aber auch darauf, was die Zukunft noch bringen mag.

Jetzt steht nur noch eine große wichtige Sache für mich an: der Besuch meiner Familie. Dieser steht allerdings erst im Juli kurz vor meiner Ausreise an. Bis dahin habe ich also noch ein bisschen Zeit, die Philippinen mit allem, was sie zu bieten haben zu erleben, sodass ich das später mit meiner Familie teilen kann.

Carmen

Die Kinder lieben es, wenn wir mit ihnen Friseur spielen
Wir bastelten eine Girlande zu Sinulog
Die Kirche Santo Nino festlich zu Sinulog geschmückt
Da es keinen Drucker gibt, malt Carmen Vorlagen zum Ausmalen