MaZ: „Kontrast zu meiner Bubble in Deutschland“

Samuel ist als Missionar auf Zeit in Brasilien und lädt in seinem neuen Rundbrief alle ein, „zehn Minuten eine ganz andere Wirklichkeit kennenzulernen“. Er schreibt von Weihnachten und Neujahr und kommt durch seine Erlebnisse in der Großtstadt Sao Paulo ins Nachdenken.

Samuel mit Freund*innen

Im Großen und Ganzen geht es mir ausgesprochen gut. Zwar habe ich mir ziemlich spontan einen meiner Weisheitszähne ziehen lassen, weswegen ich mit dicker Backe zuhause sitze, aber da das Leben nicht auf einen wartet, dachte ich mir, ich nutze meine Zeit dazu, euch mal wieder ein wenig mitzunehmen.

Die Reise beginnt dieses Mal ein paar Wochen in der Vergangenheit. Die Zeit vor Weihnachten war hier geprägt von einem riesigen Berg an Arbeit, der zu bezwingen war, bevor Essen und Geliebte auf einen im Kerzenschatten des Weihnachtsbaums warten. Da hier aber keine Tannen wachsen und meine Geliebten leider wo ganz anders unterwegs sind, wartete auf mich zunächst einmal der Berg an Arbeit, ohne genau zu wissen, mit wem ich dann Weihnachten meine Gipfelschokolade teilen darf. 

Nach den abschließenden Festen im CIM, Centro da Integracao do Migrante, Anfang Dezember, bei denen Kinder sowie andere Lehrende und Besucher*innen unter Begleitung von den verschiedensten Vorstellungen und Programmpunkten (Tänzen, Musik, Geschenken, Auszeichnungen etc.) in die Ferien entlassen wurden, gab es dort nicht mehr allzu viel zu tun. Deswegen habe ich die Woche vor und nach Weihnachten ganz im Obdachlosenprojekt der „Rede Rua“ mitgearbeitet. Neben der alltäglichen Essensausgabe, der zwischenmenschlichen Interaktion mit denen, die auf der Straße leben und den Mitwirken bei unterschiedlichsten Angeboten, war auch hier Weihnachten schon in der Luft zu spüren. Am Freitag vor Weihnachten sind wir bspw. als kleine Gruppe an den Rand der Metropole gefahren, um dort in einem kleinen Lehmhaus innerhalb einer Favela, mit über 80 Kindern die Weihnachtsgeschichte aufzuarbeiten, zu spielen, zu essen und ihnen mit Spenden finanzierten Geschenken, eine Freude zu bereiten.

Und so rückte Weihnachten immer näher, ohne dass man es so richtig mitbekam, wobei die permanenten 30 Grad und die Reggie-Musik in meinen Kopfhörern nicht gerade dabei halfen, in Weihnachtsstimmung zu kommen. Weihnachten selbst begann wiederum mit Arbeit. Arbeit, die jedoch alles andere als lästig erschien, denn zusammen mit einigen anderen Organisationen, wurde ein riesiges Fest unter dem übersetzten Namen „Solidarisches Weihnachten“ auf die Beine gestellt, das Wohnungslosen ein ebenso gesegnetes Weihnachtsfest ermöglichen sollte, wie allen anderen. Neben dem bereitgestellten, beinahe schon festlichen Essen und der musikalischen Begleitung für über 1000 Teilnehmende, hatte das Ganze einen fast schon gewerkschaftlichen Flair, da zwischen Schmausen und „Klangtherapie“ immer wieder feurige Reden über die Missstände in Brasilien und Südamerika gehalten wurden. Die laute Forderung in Richtung Politik, für eine Umverteilung von Vermögen - die reichsten Brasilianer*innen sitzen auf dem gleichen Vermögen wie die unteren 50 Prozent der restlichen Bevölkerung - und eine stärkere Bekämpfung von Hunger und Leid wurde nicht nur lautstark beklatscht, sondern imponierte mir zudem noch zutiefst, da solch eine überzeugende, leidenschaftliche, fast schon kompromisslose, aber doch friedliche Art und Weise sich für eine Sache stark zu machen, etwas ist, was ich in dem politischen und sozialen Kampf gegen die Missstände in Deutschland durchaus vermisse.

Nach Ende dieser so herzerfrischenden Veranstaltung wurde ich von einem guten Freund, Padre Arlindo, mitgenommen, um dem Schmausen, Feiern und Zelebrieren weiterhin ihre verdiente Aufmerksamkeit zu geben. Zunächst ging es für einen kurzen Kaffee zu Freunden, wo sich mir endlich die Gelegenheit bot, zu Hause anzurufen. Danach ging es in die Messe, in der mein persönliches Highlight das Singen von „Stille Nacht“ auf Portugiesisch war und schlussendlich zu einer weiteren befreundeten Familie, um dort nach einem ereignisreichen Tag, das zweite Mal meine Gipfelschokolade teilen zu dürfen.

Besonders in Brasilien ist, dass anders als in Deutschland nicht etwa die Geburt Jesu im Vordergrund steht, sondern sein Geburtstag. Pünktlich um Mitternacht war der Himmel wie an Silvester mit Feuerwerk übersät. Es gab Kuchen und das Geburtstaglied für das jetzt schon 2024 Jahre alte Jesuskind und die Bescherung für die Kleinsten.

Im Großen und Ganzen blicke ich also auf diese Weihnachtszeit zurück und darf sagen, dass ich voller Dankbarkeit, die offenen Arme schätze, die es mir ermöglicht haben, auch ganz weit weg von zuhause ein Weihnachten voller Liebe, Besinnlichkeit und Eindrücken zu erleben.

Viel Verschnaufpause blieb uns aber nicht, da ich nach ein paar weiteren Tagen Arbeit, meine Sachen packte, um mich auf den Weg nach Rio de Janeiro zu machen. Dort spielte ich den typischen Touristen und durfte das einmalige Erlebnis, an Neujahr unter einem Taifun von Feuerwerken an der Copacabana ins Wasser zu springen, von meiner Bucketlist streichen.

Rio als Stadt war nicht nur im Kontrast zu Sao Paulo faszinierend, sondern sie machte mir auch erneut klar, dass Social Media und die Realität dir zwei ganz andere Bilder präsentieren. So ist Rio eine Stadt mit zwei vollwertigen Gesichtern, das eine im Rampenlicht und ein anderes, welchem versucht wird, jegliche Aufmerksamkeit zu entziehen. Beide machen diese Stadt zu dem, was sie ist, und so bereue ich es ein wenig, den Großteil nur im touristischen Strom geschwommen zu sein und so Mensch, Armut und Alltag nur gering beleuchtet zu haben.

Falls sich also nochmals die Gelegenheit ergeben sollte, nach Rio zurückzukehren, werde ich an den Geschmack von griechischem Wein denken und die Stadt noch mehr durch Menschen, Getränk und Bars kennenlernen. Damit schließt sich der Kreis und wir befinden uns nach dieser sehr groben Reproduktion wieder in der Gegenwart, in der sich alles auf Karneval und die Rückkehr der Schulkinder einstellt.

Abseits von Erlebnis, Arbeit und Selbstfindung hat sich in den letzten Wochen immer wieder eine etwas wildere Fragestellung in den Vordergrund gespielt, dessen akute Präsens nicht anders als durch meinen aktuellen Aufenthaltsort, der Großstadt, zu erklären ist. Dieser stellt einen fulminanten Kontrast zu meiner geborgenen Bubble in Deutschland dar und entfesselt durch die Begegnung mit so großer Diversität, grundsätzliche Fragen, die man sich als junger, teilhabender Mensch in so einer Phase nun einmal stellen könnte.

Betrachtet man unsere Welt der einfachheitshalber als geschlossenes System, in dem jegliche Teilhabe als kleines Rädchen fungiert, welches jeweils zum Fortbestand des Großen und Ganzen oder anders gesagt, dem Weiterfahren der Lokomotive beiträgt, so frage ich mich, wohin uns dieser Zug wohl aktuell hinführt und als was das aktuelle Streben aller Teilhabender beschrieben werden kann? Denn man könnte Konstruktion und Standpunkt des Zuges durchaus hinterfragen:

So ist es doch gleichzeitig faszinierend und erschreckend, wie unterschiedlich Form, Größe und Charakter der Reisekoffer sind, in denen die Mitfahrenden ihre Lebenserrungenschaften sorgfältig aufbewahren und wie sie das wiederrum, dank dem eigenschränkten Rahmen, in dem sie sich alle befinden, doch wieder gleichbleiben lässt? Wie jede*r über Welt und Mitreisende mit einem Blick richten vermag, ohne dessen Prägung von eigener „Bubble“ und Egozentrik, als klare Einschränkung wahrzunehmen? Wie jede*r täglich nach seinem*ihrem eigenen Sinn, dem was ihn*sie auszumachen und beschreiben scheint, sucht und dabei vergisst, dass das Konstrukt der Lokomotive, in dem sie*er das versucht, gesteuert wird, von einer Handvoll Personen, die kein Interesse daran haben, die eigentlichen Hebel aus ihrem verkrampften Händedruck freizugeben?

Es scheint so, als würden man gleichzeitig wandern, streben und suchen. Wandern in endlosen Abteilen der Beschallung, streben nach schlussendlich bedeutungsloser Individualität und suchen nach Sinn in einem Zug, bei dem die aktuelle Leitlokomotive den eigenen Sinn, vor einiger Zeit schon für den Wunsch nach kurzlebiger Kapitalmaximierung eingetauscht hat.

Was ist das alles also Wert, warum fahren wir trotzdem alle im Zug mit, ohne uns die Frage zu stellen, wo die Reise hingeht? Nietzsche würde sagen Nichts, Christen würden vielleicht sagen, Gott gibt dem ganzen Wert genug, Christian Lindner würde sagen, der Markt, Profiteure der aktuell-führenden Ideologie würden behaupten, ihr Glück sei Legitimation genug, um den Systemofen weiter anzuheizen und ich sage euch, keine Ahnung.

Da mich diese Antwort jedoch alles andere als zufriedenstellt, bin ich der Meinung, dass man durchaus erstmal akzeptieren kann, dass wir uns alle in diesem Zug zusammengefunden haben, um gemeinsam zu schaffen. Über das Wie und Was kann man sich streiten und inwiefern es vor allem aktuell als gut angesehen werden kann, auch. Der Fakt, dass wir jedoch die Möglichkeit besitzen, gemeinsam gleich mehrere Rädchen zu kontrollieren, sollte uns davon abbringen, das Ganze aufzugeben. Unsere bedingte Teilnahme als Chance zu betrachten und aus der Gemeinschaft heraus nachhaltig und zu unserem Vorteil zu kreieren, gibt uns einen Sinn, da wo euch ein 18-jähriger Träumer gerade gesagt hat, dass es gar keinen mehr gibt.

Hier ist nicht der Ort, um in so grundsächlicher Form an euch zu appellieren, aber euch daran zu erinnern, dass man zusammen viel mehr erreichen kann, als es manchmal scheint und dass man das verdammt auch nochmal nutzen sollte, ist nicht mehr als ein schöner Abschluss zu diesen jugendlichen Zeilen.

Bis zum nächsten Kapitel
euer Samuel

Eundrücke von Samuel