MaZ: „Menschen, Kultur und Land sind in meinem Herzen!“

Johanna ist nach ihrem Einsatz als Missionarin auf Zeit zurück in Deutschland. Sie gibt in ihrem Rundbrief einen Einblick in ihr Gefühlsleben nach ihrer Rückkehr und berichtet von ihren letzten Monaten in Bolivien.

Johanna mit ihren Arbeitskollegen

Seit zwei Tagen bin ich wieder in Deutschland, in Landershofen, in dem Ort, wo ich schon meine Kindheit verbracht habe und aufgewachsen bin. Es ist irgendwie seltsam, wieder hier in meiner ersten Heimat zu sein. Ich glaube, dass es wahrscheinlich daran liegt, dass es noch nicht so ganz in meinem Kopf angekommen ist, dass hier jetzt wieder mein Leben stattfindet und ich erstmal nicht nach Bolivien (ich sehe dieses Land jetzt als meine zweite Heimat) zurückkehren werde.

Es ist faszinierend, wie schnell man sich an Dinge gewöhnt. Sachen, die ich mein Leben lang kannte, die jedoch jetzt ein Jahr durch anderes ersetzt wurden, kommen mir wieder fremd vor. Ich war überrascht, das Wasser aus der Leitung zu trinken, ohne es zuvor abzukochen, es fühlt sich jedes Mal falsch an, das Klopapier herunterzuspülen und nicht in den Müll zu werfen und es fühlt sich fremd an, nicht gleich alle zur Begrüßung und zum Abschied zu umarmen, und ein Küsschen zu geben.

Ich vermisse hier die spanische Sprache und überall ist es unheimlich still. Seit ich hier bin, habe ich nachts kein einziges Auto hupen gehört und den Markt bei uns in der Stadt kann man nicht mit der Cancha in Cochabamba vergleichen. Auf der anderen Seite bin ich jedoch auch sehr froh, meine Familie wieder um mich zu haben, mich wieder mit meinen Freund*innen aus Deutschland zu treffen und austauschen zu können und mich auf mein Fahrrad schwingen zu können. Und zum Glück hat mir ein Arbeitskolleg einen USB-Stick mit bolivianischer Musik mitgegeben, so kann ich zumindest in Gedanken und durch Musik wieder in die bolivianische Kultur eintauchen.

Ich möchte an dieser Stelle noch ein wenig über meine letzten Monate in Bolivien erzählen. Bei der Arbeit habe ich in den letzten Monaten beinahe wie eine feste Arbeitskraft mit anpacken können, das meinten zumindest auch meine Kollegen mehrere Male. Ich habe Aktivitäten vorbereitet, diese dann mit den Gruppen auch durchgeführt und auch die Dokumentation und Evaluation dieser Aktivitäten übernommen.

Im Juli haben wir dann besonders im Frauengefängnis von Cochabamba und mit den Personen des Projektes Wiñana (Wiedereingliederungsprojekt) gearbeitet. Im Gefängnis zu arbeiten, war für mich eine komplett neue Erfahrung, da ich zuvor noch nie Kontakt mit Menschen hatte, die im Gefängnis sind und so auch noch nie eines betreten habe. Vor unserem ersten Workshop habe ich mir die Einrichtung von innen ganz anders vorgestellt. Für Außenstehende wirkt das ganze zunächst einmal wie ein kleiner Markt, wenn man das Gelände betritt, da es nur von Personen wimmelt und Essen und auch Artesanias (Handgemachtes) produziert und verkauft werden. Auch viele Kinder der Frauen befinden sich unter den Personen im Gefängnis. Beim genaueren hinschauen, fielen mir dann aber doch die Unterschiede auf.

Die Frauen haben nicht die Freiheit, jederzeit in das Gefängnis herein- und herauszuspazieren. Zudem muss man für eine Zelle mit einem Bett bezahlen. Wer das nötige Geld dazu nicht hat, schläft im Hof auf dem nackten Boden. Viele Insassinnen haben mir erzählt, dass es drinnen im Gefängnis schlimmer ist als draußen, und das, obwohl wir nur mit Personen arbeiten, die vor ihrer Haft auf der Straße gelebt und gearbeitet haben.

Schön war, dass die Gruppe im Gefängnis immer sehr aufmerksam und sehr dankbar für die Workshops war, die wir angeboten haben. Sie sagten uns, dass sie sich von keinem anderen Psycholog*in, Sozialarbeiter*in, etc. so verstanden fühlen, da sie ihre Vorgeschichte (das Arbeiten und auch Leben auf der Straße) nicht so nachvollziehen können wie wir, oder vor allem von meinen Kollegen, die jahrelang schon in diesem Bereich arbeiten und viel Erfahrung damit haben.

Auch die Arbeit mit Wiñana war total schön für mich. Es war berührend den Personen zuzuhören, wenn sie mir ihre Lebensgeschichte erzählt haben. Mich hat beeindruckt, wie Personen, die große Probleme mit Alkohol- und Drogenkonsum hatten und nur die Straße als ihren Ausweg fanden, es geschafft haben, sich ein selbstständiges Leben aufzubauen, sich um ihre Kinder zu kümmern und sich einen festen Job zu suchen. Mit der Gruppe von Wiñana haben wir vor allem im Bereich der Gewaltaufklärung gearbeitet, da dies zwischen den Partnern oder auch den Kindern immer noch vorkommt.

Beide Projekte waren noch einmal etwas anders als die direkte Arbeit mit Personen, die auf der Straße leben und diese neuen Erfahrungen haben mir sehr viel Freude bereitet.

Im letzten Viertel meines Aufenthalts in Bolivien habe ich auch angefangen samstags im Projekt Wayra mitzuhelfen. Das Streichorchester für Kinder- und Jugendliche aus Familien, die in Armut leben, in denen Gewalt herrscht oder die Eltern übermäßig Alkohol trinken, dient als Präventionsmaßnahme. Durch das Erlernen eines Instrumentes wird von den Kindern viel Disziplin erfordert und durch die Musik können sie sich etwas von ihrer Situation zuhause ablenken und abschalten. Es ist auch faszinierend, mit wie viel Hingabe die Mehrheit der Kinder dabei ist und wie schnell sie die Grundlagen ihres ausgewählten Instrumentes lernen. Einige Kinder sind sehr begabt und haben ein unglaublich gutes Gespür für die Musik und das Instrument. Das ist sehr verblüffend, da viele keine Streichinstrumente kannten oder auch noch nie gesehen haben. Bei zwei Konzerten des Projektes, bei denen ich auch dabei war, konnten die Kinder- und Jugendlichen ihr Talent und Können zeigen.

Insgesamt habe ich vor allem durch die Fundación und die Arbeit sehr viel gelernt und ein sehr intensives Jahr erlebt. Das Projekt Coyera-Wiñana ist sehr abwechslungsreich. So habe ich mit Personen, die auf der Straße leben, mit Menschen, die die Straße verlassen haben und sich im Wiedereingliederungsprojekt befinden und mit Insassinnen des Gefängnis gearbeitet. Durch den Krankenpfleger im Projekt habe ich Einblicke in den gesundheitlichen Bereich bekommen und durch den Sozialarbeiter und die Erzieher viele pädagogische und auch psychologische Arbeitsweisen gesehen und auch gelernt.

Ich habe viel Leid gesehen, aber auch einige Erfolge miterlebt. So habe ich Personen getroffen, die durch den exzessiven Konsum von Alkohol Schwierigkeiten beim Gehen haben, da ihre Nerven durch den Konsum geschädigt sind. Ich bin anderen begegnet, die durch den Drogenkonsum temporär nicht mehr Herr ihrer Handlungen sind und zum Beispiel aggressiv werden. Ich habe erlebt, wie einem Paar, das sich schon im Wiedereingliederungsprojekt befindet, die Kinder vom Jugendamt entzogen wurden. Jedoch gibt es Hoffnung, dass die Kinder bald wieder zurück zu ihren Eltern kommen.

Auf der anderen Seite habe ich miterlebt, als eine komplette Familie von der Straße in das Projekt Wiñana kam und nun sehr stabil ist und die Eltern sogar einen festen und sicheren Arbeitsplatz haben. Zudem haben wir drei junge Männer auf ihren Weg in das Militär begleitet (dieses Jahr dort wird häufig als Rehabilitation für sie gesehen).

Dass mir die Arbeit so gut gefallen hat, lag neben den Personen, mit denen wir gearbeitet haben, und der Arbeit an sich, besonders auch an meinen Kollegen. Ich habe meine vier Kollegen als Familie gesehen, sie haben mir immer sehr viel zugetraut und mich machen lassen. Auch waren sie sehr einfühlsam und besorgt um mich. Sie haben oft zu mir gesagt, dass sie jetzt so wie meine großen Brüder sind, und sie deswegen auf mich aufpassen und mir in jeder Situation helfen. Das tägliche Beisammensein mit ihnen und ihre Witze fehlen mir jetzt schon.

Auch neben der Arbeit war noch einiges los und ich habe viel erlebt. Durch einen Freund, der aus einem nahegelegenen Dorf kommt, habe ich das ländlichere Leben etwas mehr miterlebt. Die Feldarbeit, z.B. die Maisernte wurde dort mit der Hand verrichtet und die Lasten von Maultieren getragen, das hat man in der Stadt eigentlich kaum gesehen. Auch habe ich dort gelernt, Hühner zu rupfen, einige traditionelle Gerichte zu kochen und habe gesehen, wie Meerschweinchen geschlachtet werden (dort werden diese Tiere mit Genuss gegessen).

Am Abend vor meinem Geburtstag im Juni hat mir eine Freundesgruppe der Uni eine Freude bereitet, als sie mich zur Überraschung einluden und meinen Geburtstag etwas mit mir feiern wollten. Die typische Torte durfte natürlich nicht fehlen und schon bald wurde mein Gesicht in die Torte gedrückt. Durch die Einladung und auch das Feiern am nächsten Tag, waren das Heimweh und die Sehnsucht nach den Personen, mit denen ich normalerweise meinen Geburtstag verbringe, nicht so groß. Ich spürte in dem Moment, dass ich mir hier auch schon ein gutes soziales Netz aufgebaut habe und willkommen bin.

Kurz danach, noch im Juni, war dann auch schon das Fest Año Nuevo Aymara, oder auch Año Nuevo Andina - nach dem Kalender der Aymara und der indigenen Bevölkerung Neujahr und Winteranfang. Dies war für mich persönlich eines der schönsten Feste, die ich in Bolivien erlebt habe. Zunächst habe ich mit der Sikuriada-Musikgruppe bis um eins in der Nacht auf dem Hauptplatz Musik gemacht. Dann ist ein ganzer Bus voll von unserer Gruppe zu einem Dorf am Berg gefahren und wir haben gewartet, bis die Sonne aufgeht. Währenddessen wurde leise etwas Musik gemacht und wir wärmten uns am Feuer. Ich war schon sehr müde, doch als es dann etwa sechs Uhr morgens war, hat sich die ganze Menge aufgeregt in Bewegung gesetzt, denn bald sollte die Sonne aufgehen und meine Müdigkeit schwand auf einen Schlag.

Verschiedenste Musikgruppen, die sich zu diesem besonderen Event versammelt haben, haben sich bereit gemacht und fingen an ihre Musik zu spielen, auch wir machten mit. Kurz vor den ersten Sonnenstrahlen hörten wir auf zu spielen und machten es allen anderen gleich; wir wendeten uns Richtung Osten, streckten unsere Hände in den Himmel und warteten bis die ersten Sonnenstrahlen uns berührten und uns wärmten. Es war so eine besondere Stimmung in diesem Moment und der Zauber hat mich angesteckt. Im Anschluss gab es ein riesiges Buffet und alle haben sich zu Essen genommen und den Vormittag, trotz einer schlaflosen und eisigen Nacht, gemeinsam, glücklich und ausgelassen verbracht – das neue Jahr hatte für die indigene Bevölkerung begonnen.

Zwei Monate vor meiner Ausreise war ich noch ein letztes Mal übers Wochenende im Urlaub. Wir sind nach Entre Rios gefahren, einer kleinen Stadt im tropischen Teil von Cochabamba. Zu fünft haben wir ein Boot ausgeliehen. Auf dem nahegelegenen und sehr breiten Fluss haben wir mehr als 24 Stunden auf dem Boot verbracht. In dieser Zeit haben wir die Natur, die Stille und das warme Wetter genossen und geangelt. Für mich war es das erste Mal, dass ich geangelt habe und ich habe einige Stunden gebraucht, um Erfolg zu haben. Doch als ich einmal den Dreh raushatte, hat es mir sehr viel Spaß gemacht. Unsere Beute haben wir am nächsten Morgen, nach einer Nacht auf dem Holzboden des Bootes, auf einer Insel gekocht und verspeist. Das Essen war hervorragend und das gesamte Wochenende war unglaublich schön und einmal eine gute Abwechslung zur großen und lauten Stadt.

Im August, kurz vor meiner Ausreise fand dann das größte Fest in ganz Cochabamba statt; es wurde die Heilige Urkupiña, die auch als Heilige Jungfrau Maria gesehen wird, verehrt und gefeiert.

Das Fest begann am Sonntag vor meiner Ausreise mit der Entrada Autoctona. Unter Autoctona fällt auch die Musikrichtung, die wir mit unseren Sikuris, ein Windinstrument, das der Panflöte etwas ähnelt, spielen. Also machte ich noch ein letztes Mal mit meinen Kollegen und der Gruppe Musik und marschierte beim Umzug mit. Am Montag und Dienstag war dann Entrada Folclórica, und beide Tage lang gab es viele landestypische Tänze. Auch ich tanzte Montagnacht mit einer Tinkusgruppe mit. Tinkus ist ein Tanz, der aus dem Norden Potosís (Bundesland in Bolivien) kommt. Da der Tanz ursprünglich zum rituellen Kämpfen diente, sind die Schritte meist sehr energisch. In dieser Nacht haben wir acht Kilometer getanzt; vom Calvario, dem Fuß des Berges, auf dem die Hl. Urkupiña vor allem verehrt wird und der viele Gläubige anlockt, bis zu der Kathedrale des Ortes. An der Kathedrale angekommen, sind alle ehrfürchtig bis zum Altar gelaufen und haben bei Urkupiña gebetet.

Am nächsten Tag begann vor allem auf dem Berg das Fest. Es wurde an jeder Ecke Musik gemacht und mit K´oas, einem andinen Ritual der Opfergabe, der Hl. Urkupiña gedankt. Ich befand mich nur eine halbe Stunde auf dem Fest, um mich dort ein letztes Mal von meinen Kollegen zu verabschieden. Es war aber sehr beeindruckend und ich hoffe, dass wenn ich vielleicht noch einmal nach Bolivien komme, ich diesen Tag nochmal mehr miterleben kann. Dieses Jahr war es mir leider nicht möglich, da ich schon in der Nacht zum Flughafen musste und zuvor noch meine Koffer fertig gepackt habe.

Insgesamt standen in den Wochen vor meiner Ausreise viele Verabschiedungen an und ich war traurig, dass die Zeit in Cochabamba für mich schon zu Ende gehen sollte. Ich habe gemerkt, wie sehr mir die Menschen, die Kultur und das Land ans Herz gewachsen sind und habe auch erfahren, dass ich eine Bereicherung für manche sein konnte.

Eines hat mich am Ende besonders berührt: Bei der Verabschiedung von den Straßengruppen baten mich zwei Personen, ob ich ihnen jeweils einen meiner Ohrringe, die ich gerade trug, schenken könnte, damit sie ein Andenken an mich hätten. Und obwohl es meine Lieblingsohrringe waren, brachte ich es nicht übers Herz Nein zu sagen, weil ich genau weiß, was auch sie für mich dieses Jahr getan haben und ich ihnen zu verdanken habe.

Grüße aus Deutschland

Johanna

Johanna mit ihrer Tanzgruppe
Abschiednehmen von einer Gruppe, mit der Johanna gearbeitet hat
Im Frauengefängnis...
... bot Johanna auch Aktivitäten an
Aktivitäten mit verschiedenen Gruppen, hier mit Coyera
Neue Erfahrung: Angeln
Beim Fest Ano Nuevo
Essensbuffet nach dem Sonnenaufgang
Die Geburtstagstorte für Johanna
Urkupi-Festtag
Johanna mit ihrer Gastmutter und im traditionellen Tanzkostüm
Vor dem Rückflug mit ihrer Mitfreiwilligen Sarah
Ein letzter Blick auf die Anden in Cochabamba
Zurück in Deutschland bei ihrer Familie