Pandemie: Solidarisch mit den Schwächsten

Die Deutsche Bischofskonferenz, die weltkirchlichen Hilfswerke und die Ordensgemeinschaften rufen am 6. September zum Sonntag der Solidarität auf. Sr. Dorothee Laufenberg hat dazu einen Impuls geschrieben.

„Den Weg wollen wir gehen, die Liebe geht mit uns, auf dem langen und steinigen, auf dem weiten und unbequemen, auf dem Weg, der die Mühe lohnt.“ (Text Hans-Jürgen Netz; Musik Oskar Gottlieb Blarr)

Der Weg, der die Mühe lohnt? Wozu denn Mühe; wozu die Plagerei?

Gebannt schauen viele Menschen zurzeit die Nachrichten und sehen besorgt steigende Zahlen von Covid 19 Infektionen. Sie sehen Menschen, die diskutieren, wie man die Pandemie einschränken könnte. Sie sehen Menschen, die sich gegen Einschränkungen wehren. Corona hat unseren Alltag fest im Griff.

Und immer hören wir dann auch, dass es uns in Deutschland noch immer relativ gut geht – jedenfalls, was die Zahlen anbelangt. „Relativ gut“ gilt allerdings nicht für Menschen, die unter der Armutsgrenze leben – in Deutschland immerhin ca. 13 Millionen Menschen – und diese Zahl stammt aus der Zeit vor Corona! Sie werden von der Krankheit und deren Auswirkungen in besonderer Weise betroffen – in Deutschland und in der ganzen Welt.

Es sind nicht allein die Zahlen der Infektionen und die Angst vor der Erkrankung, es sind die sozialen und wirtschaftlichen Folgen, die nicht nur Angst machen, sondern konkret das alltägliche Leben beeinflussen: „Bevor wir an Corona sterben, verhungern wir.“ - so titelte der Tagesspiegel am 16.4.2020, und weiter: „Wo nicht das Homeoffice das größte Problem ist, sondern das nackte Überleben.“ Beschrieben wird in diesem Artikel ein Ehemann und Vater von drei Töchtern in Neu-Delhi: „Er schleicht hinaus, um Essen aufzutreiben – und wird mit Stöcken verprügelt. In Indien ist die Ausgangssperre für Millionen Menschen der Stoß in die Armut.“

Mehr als 400 Millionen Menschen leben allein in Indien in Armut. Menschen leben von der Hand in den Mund: Bettler und Obdachlose, Erntehelfer, Straßenverkäuferinnen, Rikschafahrer, Näher, Müllsammlerinnen, Haushaltshelfer oder Reinigungskräfte. Der Lockdown, der auch in Indien zur Eindämmung von Covid-19 auferlegt wurde, wird wahrscheinlich mindestens 12 Millionen weitere indische Bürger*innen in extreme Armut stürzen, so die Weltbank in einem Bericht zur weltweiten Armut.

Vor Corona lebten auch in Deutschland schon ca. 19 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Durch die Einschränkungen und die dramatische Veränderung auf dem Arbeitsmarkt wird die Lage für diese Menschen zunehmend existenzbedrohend.

Wer ist schuld an alledem? Eine Frage, die die Erde umkreist und immer neue Schuldige werden gesucht und vermeintlich auch gefunden.

Schuldzuweisungen, die in den letzten Tagen besonders häufig hierzulande zu hören waren: China ist schuld, der Lachs ist schuld, schuld ist der Klimawandel, schuld sind die, die von ihren Urlaubsreisen zurückkehren; es sind junge Leute, die unvorsichtig in großen Gruppen feiern; es sind die, die nicht bereit sind, Einschränkungen zu akzeptieren…

Es ist so praktisch, wenn man für ein Problem einen Schuldigen findet – nur bei Krankheiten welcher Form auch immer, ist es schlicht eine falsche Frage, in dem Sinne, dass sie in eine Sackgasse führt. Je länger wir uns mit dieser Frage aufhalten, desto weiter entfernen wir uns von Antworten, die Leben schenken können.

Letztlich wird es sich wohl nicht klären lassen, wer an dieser Pandemie nun „Schuld“ trägt, aber an Schuldzuweisungen mangelt es nicht. Schuld und der Umgang damit, ist auch das Thema des heutigen Evangeliums.

Wie wäre es, einmal zu denken, dass wir alle, Sie und ich, irgendeinen Anteil an diesem Geschehen hätten. Unser Lebensstil, der wenig Rücksicht auf die Ressourcen unserer Umwelt nimmt; ein zunehmender Egoismus und Narzissmus mit der Perspektive: Hauptsache mir geht es gut; Haltungen, die andere Menschen ausgrenzen, weil sie „Fremde“ sind etc. Auch das löst die Frage nicht, wer „schuld“ hat an Corona – es öffnet aber vielleicht den Weg zu Antworten, wie wir dieser weltweiten Herausforderung als Christen begegnen könnten.

Im Evangelium geht es darum, wie die junge Gemeinde mit einem Sünder umgeht, vermutlich erlebt sie eine Störung des Gemeindelebens. Dieser soll letztlich so behandelt werden, dass ein Zusammenleben wieder neu und anders möglich wird.
 
„Geh und weise ihn unter vier Augen zurecht. Hört er nicht, hole dir zwei Zeugen. Funktioniert auch das nicht, sei er für die wie ein Heide und Zöllner.“ In einem dreistufigen Prozess versucht Jesus deutlich zu machen, dass es um einen Weg mit dem „Störer“ geht. Dieser Weg endet auch nicht im endgültigen Ausschluss – dort wartet noch immer Gottes Barmherzigkeit. „Dieser Fresser und Säufer, dieser Freund der Zöllner und Sünder!“ – so steht es an anderer Stelle im Matthäusevangelium. (Mt 11,19)

Das könnte, im Angesicht des Evangeliums, bedeuten, dass wir einander zurechtweisen – also auf das „Richtige“ hinweisen sollten. Im Hören auf das, was Menschen erleben, im Sehen der Not, im Fühlen der Angst können wir voneinander lernen, das Leben neu auszurichten.

Das „Richtige“ wäre dann wohl, solidarisch zu sein mit den Menschen, die jetzt am schwersten zu tragen haben. Nicht theoretisch, sondern z.B. ganz konkret: den alten Herrn von nebenan fragen, wie es ihm geht, was er vielleicht braucht. Das geht auch mit Abstand und mit Maske.

Das Störende und Verstörende dieser Pandemie eben nicht in die Verantwortung oder Zuständigkeit anderer geben, sondern den eigenen Anteil und seine darin liegenden Möglichkeiten erkennen und nutzen. Das wäre dann die erste Stufe zur Versöhnung für die Gemeinschaft der Kirche.

Von dieser „ersten Stufe der Versöhnung“, der persönlichen Zurechtweisung von Bruder und Schwester, führt die Antwortsuche hin zur größeren Gemeinschaft der Kirche. Als Weltkirche haben wir im besonderen Einblick in Lebens- und Notsituationen in den verschiedensten Regionen der Welt. Unsere Sorge zu beschränken auf die unmittelbaren Folgen von Corona, hieße Solidarität auf eine Momentaufnahme der Geschichte begrenzen zu wollen. Viele Menschen leiden massiv an den Folgen der Pandemie – an Arbeitslosigkeit, Mangel an Krankenversorgung, weiteren Naturkatastrophen oder auch an „selbstgemachten“ Katastrophen wie in Beirut.

Das Evangelium weist uns auf das „Richtige“ hin, indem wir alle uns wieder verstärkt hineinnehmen lassen in Gottes guten Schöpfungsplan und als Einzelne und als Gesellschaft unsere Ressourcen zur Verfügung stellen und nicht über die Armen der Welt, sondern mit ihnen reden.

Lassen wir gemeinsam unsere Kirche wieder zu einem Ort werden, an dem Verantwortung für das Leben sichtbar gelebt wird. Im Feiern eines Wortgottesdienstes über den Gartenzaun des Altenheims hinweg, im Bringen von Lebensmitteln an eine Familie, die von Hartz IV lebt.

Bitten wir um Vergebung für die Trägheit in den Friedensbemühungen im Kleinen und im Großen, lassen wir uns neu ein als Christen eine Spiritualität zu leben, die nicht im Ringen um Sonntagsgottesdienste oder der Kirchensteuer endet.

Eine wahre Herausforderung, die wir nur bestehen können, wenn wir den Weg gehen, der die Mühe lohnt – weil Gott, die Liebe selbst, diesen Weg mit uns geht – das hat er versprochen!

Sr. Dorothee Laufenberg