„Seit ich hier arbeite, lebe ich intensiver im Hier und Jetzt“

Foto: Heinz Heiss

Foto: Heinz Heiss

Wer täglich mit dem Sterben konfrontiert ist, denkt auch über den eigenen Tod nach, sagt Sr. Alicja Piszczek. Die stadtgottes hat Sr. Alicja auf der Palliativstation des Alexianer St. Hedwig-Krankenhauses in Berlin-Mitte besucht.

Manchmal sind es die einfachen Dinge, die zählen: der Wind im Haar, die Sonne auf der Haut. Das ist im Leben nicht anders als beim Sterben und gilt auch für die Patienten von der Station St. Martin. Hier auf der Palliativstation des Berliner St. Hedwig-Krankenhauses hat Schwester Alicja Piszczek ihren Arbeitsplatz, den die meisten wohl als traurig und bedrückend empfinden würden. Als Physiotherapeutin betreut und begleitet die Steyler Missionsschwester todkranke und sterbende Patienten. Und manche wünschen sich, dass Schwester Alicja sie mit Schwung in ihrem Rollstuhl über den in Sonnenblumengelb gestrichenen Flur schiebt, damit sie vielleicht ein letztes Mal noch einen Windhauch im schütterer gewordenen Haar spüren.

Wenn die 56-Jährige von ihrer Arbeit erzählt, geht ein Leuchten von ihr aus. „Bei uns auf der Station wird auch gelacht“, stellt sie gleich zu Beginn des Gesprächs klar. Denn wer nach einer Phase von Wut, Aggression und Traurigkeit seine oft sehr schlimme Diagnose akzeptiert habe, mit sich und seinem Leben versöhnt sei, könne auch wieder lachen. Mehr noch: „Alicja, leben Sie“, hört sie dann auch öfter von ihren Patienten. Und das tut sie: „Seitdem ich hier arbeite, lebe ich intensiver im Hier und Jetzt“, betont sie.

Ihren Namen hat die Palliativstation St. Martin von jenem Bischof, der seinen Mantel geteilt hat für die Bedürftigen. Der „Mantel“ der Palliativmedizin – denn das bedeutet das lateinische Pallium auf Deutsch – solle die Schmerzen in der letzten Lebensphase lindern, erklärt Schwester Alicja den tieferen Sinn der Namenswahl der Station. Patienten hätten sehr viele Ängste: vor den Schmerzen, der Dunkelheit, dem Sterben. Um diese Ängste zu nehmen und ihnen ein angst- und schmerzfreies Leben zu ermöglichen, arbeitet ein multiprofessionelles Team aus Ärzten, Pflegern, Psychologen, Sozialpädagogen, Physiotherapeuten und Seelsorgern Hand in Hand. Täglich kommen sie in dem Besprechungsraum zusammen, um sich über ihre Patienten auszutauschen.

Monatlich sterben um die zehn Patienten auf der Palliativstation, die sich in unmittelbarer Nähe zum Bereich Hämatologie/Onkologie befindet. Der Vorteil: Wer hier liegt, kennt bereits das betreuende Personal. Patienten würden sich hier deshalb gut aufgehoben fühlen, sagt Schwester Alicja. Auch ein Raum der Stille findet sich auf der Station. Wenn die Sonne scheint, tauchen die farbigen Glasfenster den Raum zum Innehalten und Abschiednehmen in ein warmes Licht. Ein schlichtes Holzkreuz hängt über dem roten Sessel. Das Erinnerungsbuch liegt aufgeschlagen auf einem Stehpult. „Erinnerungen brauchen Spuren und Zeugnisse“, steht auf der ersten Seite. „Geben Sie uns welche!“ Wer täglich mit dem Tod konfrontiert ist, denkt sicher auch mehr über den eigenen Tod nach? „Ja“, sagt Schwester Alicja, die in den Hochgebirgen Polens aufgewachsen ist. „Wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich am liebsten in einem glücklichen Moment sterben. Etwa beim Wandern oder beim Bergsteigen.“

Wie ihr Bruder: Der Priester ist für sein Leben gerne geschwommen und dabei verunglückt. Sein Motto lautete: „Lieber unterwegs sterben, als gar nicht losgegangen zu sein.“ Seit Schwester Alicja auf der Palliativstation arbeite, müsse sie wieder häufiger an ihn und die Lebensdevise ihres Bruders denken. Manchmal begleitet Schwester Alicja ihre Patienten nur einen Tag, manchmal auch drei Monate lang, bevor sie sterben. Zu Beginn ihrer Tätigkeit vor rund drei Jahren sei sie in manchen Situationen unsicher gewesen; oft hilflos und überfordert, erinnert sie sich. „Was kann ich tun, um zu helfen?“, habe sie sich immer wieder gefragt. Aber im Laufe der Zeit habe sie gelernt, was wichtig ist: „Nicht zu fliehen, sondern da zu sein – auch wenn ich nichts mehr tun kann. Da zu sein – als Glaubende und Hoffende“, betont sie. „Das ist viel“, weiß sie aus Erfahrung.

Denn gerade diese Hilflosigkeit, nichts mehr für einen Menschen machen zu können, sei für viele – nicht nur für die Angehörigen – schwer auszuhalten. Wenn Schwester Alicja nicht auf der Palliativstation arbeitet, engagiert sie sich zudem im Winter ehrenamtlich für Obdachlose bei der Berliner Kältehilfe. Auch das sei ein Ort für existenzielle Grenzerfahrungen, aber auch für Begegnungen mit Gott, nach denen sich Schwester Alicja sehnt. „Ich bin zwar Nonne, aber trotzdem eine Gottsucherin. Jeden Tag neu.“  

Dagmar Paffenholz

Hinweise: Der Text entstand vor der Corona-Pandemie. Mit freundlicher Genehmigung der stadtgottes, dem Magazin der Steyler Missionare.