"Was ich von Menschen mit Behinderung lerne"

Sr. Christa arbeitet in einem Behindertenwohnheim. Die Corona-Pandemie ist für die Bewohner eine schwer erträgliche Situation. In einem persönlichen Bericht beschreibt die 45-jährige Missionsschwester, wie sich Beziehungen in dieser Zeit verändert haben.

Ich bin Sr. Christa Sun und komme aus Fernost. Ich erhielt 2013 meine Missionsbestimmung für Deutschland, wo ich seit 2014 lebe und arbeite. Nach meiner Ausbildung zur Heilerziehungsassistentin, absolviere ich jetzt eine Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin in einem Behindertenwohnheim. Meine Arbeit macht mir viel Freude, denn ich habe schon in meiner Heimat mit behinderten Kindern gearbeitet.

Durch den geringen Altersunterschied zwischen mir und den Menschen mit Behinderung in meiner jetzigen Wohngruppe, fiel es mir am Anfang schwer, den Bewohnern Anweisungen zu geben. Als ich einmal einen von ihnen aufforderte, seine Wäsche zu wechseln und zu waschen, weigerte er sich mit den Worten, ich sei nur eine Schülerin und bliebe nur ein paar Jahre dort. Aber durch besseres Kennenlernen konnte ich solche Aussagen aus dem Weg räumen und Akzeptanz und Respekt gewinnen. Gespräche, Gesellschaftsspiele und Freizeitaktivitäten schufen eine echte Vertrauensbasis.

Die augenblickliche Corona-Krise ist für einen der Bewohner sehr schwierig, weil er nicht nach Hause konnte. Er fragte mich jeden Tag, wann er seine Familie besuchen darf. Ich erklärte ihm, dass diese Pandemie wahrscheinlich lange dauern wird. Da weinte er noch mehr. So habe ich ihm vorgeschlagen, seinen Eltern eine Karte zu schicken. Er hat diese selbst gebastelt und einen persönlichen Wunsch darauf geschrieben. Das Erstellen der Karte hat ihm viel Freude gemacht. Seine Mutter kam vorbei und hat sich – den jetzigen Vorschriften gemäß – an der Tür mit ihm unterhalten. Seitdem ist er nicht mehr so traurig und wartet geduldig, dass die Pandemie vorbeigeht. Damit er nicht depressiv wird, gehe ich oft mit ihm spazieren.

Anfangs beobachtete ich, dass er zu seinen Mitbewohnern keine besonders guten Beziehungen hatte und sich kaum für andere interessierte. Doch dann begann er langsam sich um andere zu sorgen. Wenn ein Mitbewohner nicht da war, fragte er, wo er sei. Besonders während dieser Corona-Krise sind seine Veränderungen deutlich.

An einem Wochenende bat er mich und andere nach dem Frühstück, in sein Zimmer zu kommen. Dann holte er seine Lieblingsschokoladenkekse und Süßigkeiten heraus und verteilte sie an alle. Er nahm ein paar Süßigkeiten heraus und sagte: „Ich möchte sie auch den anderen Mitarbeitern anbieten”. Ich war überrascht und fragte ihn, ob dieser Tag für ihn ein besonderer sei und warum er das tue. Er schien einfach glücklich darüber zu sein, etwas zu haben, was er mit den anderen teilen konnte.

Was mich an unserer Beziehung fasziniert, ist, dass wir uns bei jeder Begegnung näherkommen, egal ob bei den Mahlzeiten, bei der täglichen Pflege, beim Einkaufen oder beim Spazierengehen. Mich hat es glücklich gemacht, dass ein fremder Mensch so schnell Vertrauen zu mir entwickelt hat und es gibt mir Mut für die weitere Arbeit mit den Menschen in der Wohngruppe.

Für mich ist es wichtig, dass ich diese Begegnung gemacht und darüber nachgedacht habe und mich für diese Berufsrichtung entschieden habe. Im Rückblick auf die vergangenen Monate in der Wohngemeinschaft denke ich, dass es eine schöne Zeit war und ich hoffe, dass es auch im nächsten Jahr so bleiben wird. Ich habe gemerkt, dass Beziehung kein fester Zustand, sondern ein laufender Prozess mit Höhen und Tiefen ist. Ich werde versuchen, weiterhin daran zu arbeiten, um eine positive Beziehung zu den Menschen mit Behinderung aufzubauen.

Vor Kurzem hatte ich eine Woche Urlaub. Als ich wieder zur Arbeit kam, habe ich gemerkt, wie ich alle Bewohner meiner Gruppe vermisst hatte, weil ich sie ins Herz geschlossen habe. Auch die Bewohner freuten sich, dass ich wieder da war. In dieser Corona-Krise und den damit verbundenen Einschränkungen haben wir die Möglichkeit, Beziehungen aufzubauen und zu vertiefen. Ich hoffe, wir werden diese besondere Erfahrung nach der Krise nicht wieder so schnell vergessen.

Sr. Christa Sun