„Wichtig ist, den Kontakt zu halten“

Unsere Provinzleiterin Sr. Maria Theresia Hörnemann sprach im Interview mit der Ordenskorrespondenz-Redakteurin Christina Brunner über ihre Erfahrungen als ehemalige Kongregationsleiterin mit dem Umgang von Krisensituationen.

Sr. Maria Theresia (2.v.r.) mit ihrer internationalen Kommunität in Mönchengladbach.

In welchen Konfliktregionen leben Steyler Schwestern aktuell?
Unsere Schwestern sind in der Ukraine im Einsatz. Aus dem Südsudan sind Schwestern über die Grenze nach Uganda gegangen und arbeiten in Flüchtlingslagern. Das Haus ist noch da und die Schwestern würden gern zurückgehen, aber das ist zurzeit nicht möglich. Ich höre aktuell auch von Kämpfen zwischen Tribes in Papua-Neuguinea. In meiner ersten Zeit als Leiterin der Kongregation geschahen die Christenverfolgungen in Ostindien. Damals riefen mich die Schwestern an: Sie säßen im Haus und wüssten nicht, wie es weitergeht. Das war das erste Mal, dass ich mit dem Thema zu tun bekam. Dann wurde im Südsudan unsere Schwester Veronika angeschossen, sie starb kurze Zeit später. Die Covid-Pandemie bedeutete eine große Gefahr für die Schwestern in Polen und Indien, die Regionalleiterin in Mosambik starb daran. Es gab und gibt wirklich keine Zeit, wo wir nicht in irgendeinem Gebiet eine Krise erleben.

Konnten Sie da manchmal vor Sorge schlecht schlafen?
Oh ja! Etwa als mich die Schwestern aus dem Südsudan abends anriefen, dass sie alle im Haus sitzen, und um sie herum wird geschossen. Sie könnten aber nicht so oft anrufen, weil die Batterien sonst leer wären. Nach einer Stunde habe ich wieder angerufen: immer noch das gleiche. Da habe ich nachgeschaut, ob noch eine von meinen Rätinnen wach ist, und wir sind in die Kapelle gegangen. Denn das Einzige, was wir tun konnten, war beten und den Kontakt halten. Am nächsten Morgen wollte ich anrufen und bekam keine Verbindung. Und da habe ich fast Panik gekriegt! Über die Schwestern in Äthiopien habe ich dann erfahren, dass alles okay war.

Als Sr. Veronika angeschossen wurde, riefen sie mich morgens um halb 5 an. In solchen Situationen muss man ruhig bleiben und sich sagen: Im Moment kann ich auch nichts machen außer beten. Es ist unglaublich wichtig, dass man ein Team hat, mit dem man reden kann. Das hat mir immer sehr geholfen, auch bei der Überlegung: Was tun wir? Was ist nötig? In solchen Situationen möchte man ja immer gleich dort hingehen und helfen. Das geht natürlich nicht, vor allem in der Pandemie war ja Reisen unmöglich. Diese Hilflosigkeit auszuhalten, braucht viel Kraft!

Was hilft noch?
Es war gut, dass ich gute Verbindungen zu anderen internationalen Ordensgemeinschaften hatte, die in ähnlichen Situationen waren, um sich austauschen zu können. Wir sind halt an den Stellen, wo Krisen sind, und nicht da, wo alles gut läuft. Und deshalb sind die Krisen bei uns vielleicht häufiger. Ich habe auch gelernt: Die Schwestern erwarten gar nicht, dass wir sofort kommen. Wichtig ist, dass man Kontakt hält, dass die Schwestern wissen, sie können jederzeit anrufen. Dass sie wissen: Wir wissen um sie.

Haben Sie manchmal überlegt, dass Schwestern besser das Land verlassen sollten?
Das war im Südsudan so. Nachdem Sr. Veronika ihren Schussverletzungen erlag, hat sich die Situation ja noch weiter verschlimmert. Und da haben wir in Rom überlegt, ob die Schwestern nicht gehen sollten. Aber wir waren uns auch nicht ganz einig, denn wir gehen ja ganz bewusst in die Krisengebiete. Dann wurde auch die SVD angegriffen, ihr Haus wurde angesteckt.

In dieser Situation erlebten wir die Spannung, was die Schwestern vor Ort wollen und was wir sehen. Einige von uns wollten entscheiden: Wir holen sie jetzt da raus! Auch in der Gemeinschaft im Südsudan waren die Schwestern sich zunächst nicht einig. Einige wollten bleiben und die Leute nicht verlassen. Andere hatten Ängste und wollten lieber gehen. Wir von der Generalleitung haben immer gesagt: Die Schwestern sind frei zu gehen. Wenn jemand sagt, sie könne die Situation nicht aushalten, dann tun wir alles, damit sie gehen kann.

Im Südsudan haben die Schwestern dann selbst entschieden, dass sie alle nach Äthiopien gehen, weil sie zu dieser Region gehören. Ich habe sie dann später dort getroffen und eine Auswertung mit ihnen gemacht. Da habe ich gemerkt, dass das ein schwieriger Prozess für die Gemeinschaft war, weil einige eigentlich gern geblieben wären. Aber die, die gehen wollten, haben gesagt: Wenn euch was passiert, haben wir keine ruhige Zeit mehr.

Es gibt wahrscheinlich keine festen Kriterien für eine solche Entscheidung, oder?
Das sind schwierige Situationen. Und es ist ja auch immer die Frage, ob man in diesen bedrohlichen Krisen noch sinnvoll helfen kann. Mir war immer wichtig zu hören, was die einzelne Schwester will und was die Kommunität sagt. Denn manchmal kommt es einem hier in Europa viel schlimmer vor, als den Schwestern vor Ort. Die sagen dann oft: So schlimm ist es doch gar nicht! Und wir hören die Nachrichten und sind sehr besorgt. Ich war immer erstaunt, dass unsere Schwestern in diesen Situationen oft bleiben wollten. Wir hatten mehr Angst als sie!

Sind Schwestern traumatisiert aus diesen Einsätzen gekommen?
Ich habe nie erlebt, dass jemand einen psychischen Zusammenbruch erlitten hat. Aber einige haben schon Ängste entwickelt, in manche Situationen zu gehen. Sie hatten schlaflose Nächte, und wenn sie Geräusche hörten, schraken sie zusammen. Man muss aber bedenken: Das ist ja alles noch nicht so lange her. Wir wissen nicht, was noch nachkommt. Wir erleben ja jetzt, wo die alten Schwestern wieder was vom Krieg hören, dass vieles wieder hochkommt.

Bei den Schwestern, die im Südsudan die Tötung von Sr. Veronika erlebt haben, können wir noch nicht sehen, welche tieferliegenden Traumata das ausgelöst hat. Aber wir müssen das beobachten. Die Schwestern in der Ukraine helfen auch russischen Soldaten, die vorbeikommen und Hunger haben. Sie versuchen es, aber was das mit ihnen auf Dauer macht? Ich weiß es nicht.

Sie haben auch Schwestern in Russland. Wie wirkt der Krieg in Ihre Ordensgemeinschaft hinein?
Wir haben keine einheimischen Schwestern aus Russland, wohl aber aus der Ukraine. Bei der Euro-Versammlung in Steyl im Herbst 2022 haben wir eine Extra-Zeit geschaffen, in der zwei polnische und eine ukrainische Schwester aus der Ukraine berichten konnten. Die Abordnung aus Russland, eine Slowakin und eine Polin, haben auch zum Ausdruck gebracht, wie schwer es für sie ist, dass sich die Nachbarn bekämpfen. Besonders in Russland können sie ja nicht darüber sprechen, weil man das Wort „Krieg“ nicht in den Mund nehmen darf. Eine Schwester aus der Generalleitung ist jetzt nach Russland geflogen, Sr. Miriam, die Generalleiterin, hat eine Zeit in der Ukraine verbracht. Das sind wichtige Zeichen der Solidarität.

Gab es vorher schon Konflikte?
Schon bevor der Krieg begann, haben Schwestern aus der Ukraine, die in Russland arbeiteten, gespürt: Ihnen fehlt das Vertrauen zu den Leuten – aus der Geschichte heraus. Eine Schwester hat sich sehr bemüht, sogar noch verlängert, aber irgendwann hat sie gesagt: Ich kann hier nicht Fuß fassen. Auch in anderen Ländern haben ja Menschen aufgrund der Geschichte Schwierigkeiten, sich auf andere Nationen einzulassen. Manchmal ist ihnen das gar nicht bewusst. Erst wenn sie da sind, die Sprache hören, schmerzhafte Dinge erleben, merken sie: Da können sie nicht leben. Es ist zu schwierig.

Ich habe es selbst auch erlebt. Als ich in der österreichischen Provinz gearbeitet habe, haben wir Flüchtlinge aus dem Balkan-Krieg aufgenommen. Und als man nach dem Krieg mit einer Gruppe Psychologen das Erlebte aufarbeiten wollte, sagten die Leute: Lasst uns damit in Ruhe. Wir wollen darüber nicht reden. Das erlebe ich auch oft: Wenn der Konflikt vorbei ist, will man nicht darüber reden. Aber es sitzt tief drinnen. Und man sagt ja heute, dass es manchmal 40 Jahre dauert, bis man darüber reden kann. Man will einen neuen Anfang machen, nicht zurückschauen. Die Erinnerungen sind zu schmerzlich. Bis es im Alter oft wieder aufbricht.

Über Konflikte nicht zu reden und alles mit dem Mantel der „gemeinsamen Mission“ zuzudecken, kann gefährlich werden, oder?
Wir versuchen, die Frage der nationalen Identität in unseren internationalen Kommunitäten von Anfang an zu thematisieren. Leid, Angst, vielleicht auch Hass sind ganz sicher da. Ich denke oft, dass wir uns damit noch viel zu wenig auskennen. Oft habe ich den Eindruck, dass manchen Schwestern das Problem gar nicht bewusst ist, bis sie in die Situation kommen. Weil wir international sind, versetzen wir Schwestern von einem Land in ein anderes und vergessen, dass auch innerhalb eines Kontinentes große kulturelle Unterschiede bestehen, z.B. zwischen den verschiedenen Ländern Afrikas oder auch Europas.

Kann man „vorbeugen“?
In den letzten Jahren ist bei den internationalen Orden viel Aufmerksamkeit entwickelt worden für das Thema Interkulturalität. Fast jedes Land hat ja mal mit irgendwem im Streit gelegen, hat andere überfallen, ist überfallen worden. Wenn den Schwestern nicht geholfen wird, die Erfahrungen aus der Geschichte ins Wort bringen zu können, kann Internationalität dazu führen, dass wir sehr oberflächlich werden – vor lauter Angst, über das zu sprechen, was mich stört oder wovor ich Angst habe. Wenn das nicht bewusst angegangen wird, führt es zu Konflikten. Es besteht die Gefahr, dass die Gemeinschaft sehr oberflächlich lebt, weil man über wichtige Dinge nicht spricht. Eine Begleitung von außen kann sehr hilfreich sein.

Wenn eine Gemeinschaft irgendwo neu anfängt, haben wir normalerweise eine solche Begleitung organisiert, damit sich die Schwestern kennenlernen und auch über die Hindernisse sprechen. Das hat zu Beginn sicher geholfen. Aber dann kommen Versetzungen, die Gemeinschaft verändert sich, und wenn die Schwestern einmal in der Arbeit sind, ist es nicht so einfach, sich dafür Zeit zu nehmen.

Können Sie aus Ihrer Erfahrung in der Leitung ein Fazit ziehen?
Das gemeinsame Durchleben einer Krisensituation, und das gilt sowohl für die Schwestern in der Situation als auch für das Leitungsteam, stärkt die Verbundenheit untereinander und auch mit den Menschen vor Ort.

 

Das Interview erscheint hier mit freundlicher Genehmigung der DOK.